Solo-Springsteen auf Song-Safari
Das musikalische Herz Amerikas schlug für einen Abend in der Color Line Arena - meist atemberaubend schön, mitunter heftig
von Stefan Krulle
"Wetter gut! Stimmung gut! Bier kalt! Let's go!", schrieb Matty ins Gästebuch am Montag, da war es 15.52 Uhr. "Noch 1 Stunde, dann mache ich mich auf der Arbeit vom Acker und fahre Richtung Stellingen. Der Countdown läuft! Boss, wir kommen!!!", notierte dann, 21 Minuten später, The Promise aus Glückstadt, der mit 151 Einträgen schon ein "Gold Member" auf dem Forum von
www.asbury-park.de ist. Und "Was geht? Gehts denn endlich los? Ich will wissen, was er heute so loslässt!" tippte um 20.19 Uhr Silver Palomino in die Tasten. Das war der letzte Eintrag, bevor die Color Line Arena zur Church of Bruce wurde, bevor also Mr. Springsteen mutterseelenallein vor seine Schäfchen trat, um einige seiner Lieder aus den letzten 30 Jahren zu singen.
Draußen im Lande rauften sie sich derweil die Haare, denn das Mitglied Silver Palomino, bürgerlich: Jens Hase und bislang nur mit zwei von fünf möglichen Sternen im Club ausgestattet, arbeitete am eigenen Aufstieg und meldete jeden Song, den Springsteen gespielt hatte, sofort übers Handy an die Website. "Ich wußte es! FUUUUUUUUUUUUUUCK!", mailte um 20.35 Uhr jimmythesaint, immerhin Senior Member mit vier Sternen. Ein "Verdammt!" kam vom Ein-Stern-Newbie Bigbossman. Das alles bloß, weil Bruce gleich zu Beginn "Downbound Train" auf der Pump Organ gespielt hatte. Uns war ja, ganz ehrlich gesagt, das rare, wunderbar nölige Instrument mehr aufgefallen als der offenbar nicht eben häufig dargebotene Song. Aber wir haben ja auch noch nicht mal einen einzigen Stern in der verschworenen Gemeinde echter Fans.
Zehn Internetseiten und 120 Minuten weiter vervollständigte jener Jens Hase aus Günzburg sein Tagwerk als Silver Palomino und trug den letzten von 25 Songs, die Springsteen an diesem selbstredend denkwürdigen Abend gespielt hatte, in seine Liste. Viel war passiert in diesen Stunden. Als Bruce Springsteen die schwül erleuchtete Bühne betrat, da sah er wieder mal aus wie ein Handwerker, der schnell noch eine defekte Glühlampe auszutauschen hat und dabei möglichst nicht doll auffallen will. Hinter seiner kleinen Orgel lächelte er dann schon entspannter, und gleich danach hat er uns den Atem und die Sinne geraubt. "Reason To Believe" als dräuender Blues aus der Schattenwelt, durchs Mikro seiner Mundharmonika gesungenes Lamento, als sei Bruce in Wahrheit Lemure Robert Johnsons. Zerlegt und filetiert, der Zwölftakter, seltsam zerdehnt, auf stattliche Länge gebracht, dabei doch nur Reduktion zur bittersüßen Essenz.
Genau hier begannen wir uns zu erinnern. Als erstes an Neil Young, wie er am 29. April des Jahres 2003 auf der Bühne des CCH inmitten eines Haufens Klump dasaß wie ein Eremit aus den Wäldern, der auf den Sperrmüll wartet. Wie er dann aus dem unübersichtlichen Haufen ein schönes Instrument nach dem anderen kramte und eigentümliche Lieder wie nur für sich selbst bestimmt ertönen ließ. Danach erinnerten wir uns an den Bob Dylan der grauen Pop-Vorzeit, wie er mit seiner Gitarre intellektuelle Verstiegenheit klingen ließ wie volkstümliche Gassenhauer. Und jetzt blickten wir wieder auf Springsteen, den Hemdsärmligen, und sahen zwar den Bruder im Geiste, der aber doch ganz anders war. Dylan hatte sich für seine Songs Gerüste aus Metaphern und höheren Einsichten gebaut, Young vor zwei Jahren das Dörfchen Greendale samt seiner Bewohner erfunden. Beide glaubten dabei, auf eine Art versinnbildlichtes Amerika zu blicken. Springsteen blickt lieber einfach auf Amerika, und dazu tut er nicht viel mehr, als die Vorhänge beiseitezuschieben.
Was er dann erblickt, faßt er auf Platten wie "Nebraska" und "The Ghost Of Tom Joad" in noch weit dunklere Klänge, als wir sie am Montag in der Color Line Arena zu hören bekamen. Das war vielleicht ein kleines Manko, ist allerdings zum einen den lichteren Songs des neuen Albums "Devils And Dust" zuzuschreiben, zum anderen der offenbar großen Lust Springsteens daran, alte Songs neu zu formatieren. Das klappt oft bravourös, geht indes zuweilen auch in die Hose. Seine Piano-Version von "The River", in stetem Falsett mit gelegentlichem Räuspern angeboten, war solch ein Grenzfall. Im Forum überwog die Mehrheit der Gegner, der wir uns gerne anschließen.
Doch was soll das Erbsenzählen, wenn Springsteen da vorn auf musikalischer Safari wandelt, wenn er als Forschungsreisender im Kopf zu den Underdogs Amerikas schließlich an der Crossroad dem Blues Auge in Auge gegenübersteht oder plötzlich sanfte Lovesongs singt, "vor denen mich mein Vater immer gewarnt hat, weil er sie für eine Erfindung der Regierung zur Ruhigstellung des Volkes hielt". Auch eine Rolle, die Springsteen nicht oft spielt: der Entertainer und Conferencier. Da hätte er eigentlich gleich noch seine deutschen Fans vom penetranten Mitklatschen an jeder temporeicheren Passage abhalten können. Statt dessen gönnte sich zum Finale mit Pump Organ noch eine schwiemelige Version von "Dream Baby Dream". Ein großer, 100 Euro teurer Abend. Der wohl so trunken machte, daß Silver Palomino seine Setlist mit "Thunder Road" und einem Gastauftritt Steven van Zandts enden ließ. Zwei Meldungen aus dem Reich der Träume.
Artikel erschienen am Mit, 29. Juni 2005
Quelle:
http://www.welt.de/data/2005/06/29/738519.html?s=1