Eine kurze und knackige Rezension im "FALTER", Ausgabe 43/20: (Ich erlaube mir, den vollständigen Text hier einzufügen.)
Zitat:
Jesus, der Heilige Geist und die Burlesque-Show
Der literaturnobelpreisunverdächtige größte lebende Songwriter der USA, Bruce Springsteen, veröffentlicht ein neues Album
GERHARD STÖGER
Feuilleton, FALTER 43/20 vom 21.10.2020
Bob Dylan wird kommenden Mai 80, Bruce Springsteen feierte 2019 seinen 70er. Gerade einmal acht Jahre trennen die beiden Giganten der US-Liedermacherkunst also. Kaum zu glauben. Denn während der eine schon alt wirkte, als er es noch längst nicht war, hat der andere etwas von ewiger Jugend.
Exemplarisch zeigt sich das auf der Bühne: Dylan-Konzerte neigen zu erratischer Muffigkeit, ihre Qualitäten erschließen sich vollumfänglich nur Angehörigen des strengen Ordens der Church of Bob. Springsteen hingegen vermag live selbst Ungläubige einzufangen und als temporär mit Glück Durchflutete zu entlassen.
Korrekter gesagt zeigte es sich. Denn ob Dylans Neverending Tour jemals wieder starten darf, steht pandemiebedingt ebenso in den Sternen wie der Tag, an dem Springsteen mit seiner unfassbaren Euphorie und Energie wieder ein mit 50.000 Menschen befülltes Fußballstadion innig herzen darf.
Untätigkeit geht bei Springsteen aber gar nicht; sie macht ihn schwer depressiv, wie er in seiner exzellenten Autobiografie "Born To Run" 2016 ausführte. Also hat er zuletzt 236 Mal eine Solo-Broadway-Show gespielt, das Ganze als Film und Tonträger herausgebracht und im Juni 2019 ein nettes, in seiner aufpolierten Gefälligkeit aber schon auch ein wenig belangloses neues Album samt zugehörigemSpielfilm nachgelegt, "Western Stars".
Nur 16 Monate später folgt mit "Letter to You" das nächste Werk, neun neue Lieder stehen neben drei liegengebliebenen Stücken aus den 1970ern. Mit seinen Kumpanen von der E Street Band live daheim im eigenen Studio aufgenommen, ist es ungleich rockiger gestimmt als "Western Stars"; an Atmosphäre herrscht kein Mangel, und speziell die Gesangsperformance rührt nicht nur einmal. In der ersten Minute von "House of a Thousand Guitars" etwa, wo Springsteens irgendwie verletzliche und doch so wuchtige Stimme lediglich zur Klavierbegleitung die ewige Magie des Rock 'n'Roll beschwört.
Ein krimineller Clown, der den Thron gestohlen habe, taucht da auch auf. Es ist eine von zwei kurzen Passagen des Albums, die womöglich auf den verhassten aktuellen Präsidenten anspielen. "Wir waren besorgt, aber jetzt haben wir Angst", heißt es in der anderen -ein Regenmacher wird angerufen, um das in Flammen stehende Haus zu löschen.
Doch "Letter to You", Springsteens 20. Studioalbum, ist weit davon entfernt, ein Statement zur Zeit zu sein. Bildstark und farbenprächtig geht es um archaische Motive; um Sünder, Jesus und den Heiligen Geist, der eine Burlesque-Show leitet; um Gespenster der Nacht und das Ringen mit der Vergänglichkeit. "Last Man Standing" heißt ein Song, "If I Was the Priest" ein anderer, darunter spielt es Bruce Springsteen nicht. javascript:; In den besten Momenten ist das packend, berührend, kraftvoll und gut. Dazwischen kippt es aber in Richtung Nummer-sicher-mid-tempo-Rock, dem das entscheidende Quentchen Schärfe fehlt. Keine Frage, "Letter to You" ist ein gutes Springsteen-Album. Auf ein spätes Meisterwerk, wie es Dylan heuer mit "Rough and Rowdy Ways" gelungen ist, müssen wir vorerst allerdings noch warten.