Meine Review (wird auch auf anderen Nicht-BS-Boards gepostet, deswegen manchmal etwas allgemeiner gehalten).
Konzeptalbum ist ein großes Wort. Wenn man ein Album hört, bei dem sich der Künstler an so ziemlich allen Zutaten der amerikanischen Musik-Küche bedient, dann fällt es schwer zu glauben, dass aus einem Mix aus Rock, Pop, Folk, Country, Gospel und Rap etwas entsteht, das sich eben diesen Titel „Konzeptalbum“ verpassen lassen kann.
Als die ersten Presseberichte auftauchten, die von Drum-Loops, elektronischen Beats und Folkeinlagen berichteten, kühlte meine Vorfreude auf das Album ein gutes Stück ab. Erst recht als ich auf der Tracklist mit „Wrecking Ball“, „Land of hope and dreams“ und „American Land“ gleich drei bekannte Stücke fand und es nach Resteverwertung aussah. Dann gab es die Aussagen von Manager Jon Landau, die das Album als „his angriest ever“ bezeichneten und ich wusste nicht mehr so recht, wie das alles zusammenpassen sollte.
Während der Aufnahmen zu Wrecking Ball befand sich Bruce nach dem Verlust seines Freundes Clarence vermutlich in einer sehr schwierigen Situation und hätte all seine Trauer sicherlich in diesem Album verarbeiten können, was er aber nicht tat. Statt den Verlust seines Freundes, beschreibt er den Verlust von Existenzen und Idealen seines Heimatlandes.
Track by track:
We take care of our ownDie erste Single und der Song mit dem meisten Mainstream-Appeal. Somit vollends als Vorbote des Albums geeignet. Gibt textlich die Richtung des Albums vor, dient als Einleitung und spielt mit Zitaten und einigen Hinweisen auf diverse Missstände in Amerika an.
Easy MoneyDer Song erzählt die Geschichte eines Mannes (und seiner Frau?), der sein Geld im Laufe der Finanzkrise dank der „Fat Cats“ verloren hat und es sich nun auf die „altmodische“ Art zurückholen will. Der Song hat einen sehr kräftigen Beat und stellt eine Mischung aus Rock und Folk da, wobei die Geige sehr im Vordergrund spielt.
Shackled and drawnJetzt wird es noch eine Ecke folkiger und es stampft noch kräftiger. Der Gospel-Chor im Refrain stellt einen weiteren interessanten Farbtupfer dar. Inhaltlich erklärt ein Vater seinem Sohn die Ungerechtigkeit, die einen unverschuldet treffen kann. Ebenso erklärt er ihm aber, dass er weiter arbeiten soll und es wichtig ist, dass er die „ehrliche“ Arbeit fortführt.
Jack of all tradesNach zwei mehr oder weniger sehr pessimistischen Geschichten schimmert hier neben Melancholie ein wenig mehr Optimismus bei der beschriebenen Person durch. Nach allen Verlusten und Niederlagen kamen bisher auch immer wieder bessere Zeiten. Der Charakter stellt sich als Kämpfer dar, der in den kleinen Dingen des Alltages seine Erfolge wiederfinden möchte, aber auch mit dem Gedanken spielt, diejenigen, die für all da verantwortlich sind, zur Rechenschaft zu ziehen („If I had me a gun, I’ll find the bastards and shoot’em on sight“). Der sehr langsame Takt und die Instrumentalisierung sorgen für eine Atmosphäre von Wehmut und Traurigkeit. Auffallend ist sicherlich das Trompetensolo, an welches ich mich noch nicht wirklich gewöhnt habe.
Death to my hometownHier wird es wieder folkig und es wird eine riesige Bandbreite an Instrumenten aufgefahren. An dem Gemeinschaftsgefühl, das die seltsam fröhliche Instrumentalisierung beschwört, orientieren sich auch die Lyrics. Hier spricht nicht wie in den vorherigen Liedern ein Einzelner, sondern wie es scheint eine ganze Stadt davon, wie die Zerstörung ganz ohne offensichtliche Waffen hereinbrach. Wütender als in den letzten vier Songs hat man Springsteen bislang wirklich nur sehr selten gehört.
This depressionDer Sound wird moderner und sphärischer. Das Schlagzeug und die von Tom Morello gespielte Gitarre rücken in den Vordergrund. Für mich ein toller intensiver Song, der richtig viel Potential hat. Bruces Stimme klingt hier wirklich authentisch. Das lyrische Ich ist am Tiefpunkt angekommen, aber er sieht auch Hoffnung („The morning sun is breaking“) und bittet um die Hilfe einer nahestehenden Person. Irgendwo wird hier auch eine Antwort auf „We take care of our own“ gegeben, getreu dem Motto: Wenn wir uns auf alles andere nicht verlassen können, so zählt umso mehr der Zusammenhalt untereinander.
Damit wird auch irgendwo der erste Teil des Albums abgeschlossen, der anhand der erzählten Geschichten eine schonungslose Bestandsaufnahme darstellt.
Wrecking BallIch hatte meine Vorbehalte gegenüber der „Resteverwertung“, aber der Titel passt zum einen an diese Stelle des Albums und zum anderen auch als plakative Metapher. Sicherlich der Track, der noch am ehesten an den typischen E-Street-Sound erinnert, da Max an der Kiste sitzt und ordentlich Druck mitbringt. Eine richtig starke Nummer mit zwei mitreißenden Tempowechseln und die Trompete passt in diesem Song auch erstklassig. Die Zeilen „Hard times come and hard times go…“ kann niemand so überzeugend singen wie der Boss. Neben dem Zerfall erwähnt dieser Song auch den Aufbau neuer Dinge und hat einen sehr viel optimistischeren Ton.
You’ve got itDer Song, der aus dem Rahmen des Albums fällt – zumindest rein textlich. Ein kleiner, aber sehr feiner Rock-Pop-Song mit einer dominanten Slide-Gitarre und der Feststellung das „Baby“ irgendwas hat, was niemand sonst hat. Nicht schlecht, aber irgendwie deplatziert.
Rocky groundWo wir gerade bei aus dem Rahmen fallen waren, kommt mit „Rocky ground“ das sicherlich gewagteste Stück des Albums. Eine Pop-Nummer mit elektronischem Beat, Gospelanleihen, einem Refrain, der von einer Frau - Michelle Moore - gesungen wird, die dann auch noch anfängt zu rappen. Und was passiert? Es funktioniert. Das Stück beeindruckt durch seinen Mut und seine tolle Atmosphäre. Es wirkt nicht, wie ein Fremdkörper, sondern passt hervorragend zum Kontext des Albums. Der Songtext beschreibt einen Hirten, der seine Herde aus den Augen verloren hat. Eine beeindruckende Parabel auf die aktuelle gesellschaftliche Situation und eine gelungene Überleitung zum nächsten Song.
Land of hope and dreamsSeit Jahren eine Wucht im Live-Set, hier erstmals auf einem Studioalbum zu finden. Er fordert praktisch die verlorenen Menschen aus „Rocky ground“ auf, sich dem Zug anzuschließen und sich auf die Reise in eine bessere Zukunft zu machen. Musikalisch hat Bruce nicht einfach die Live-Version vertont, sondern wieder moderne Elemente, wie Drum Loops eingebaut, die im ersten Moment etwas ungewohnt wirken. Das Intro und das Outro („People get ready“) sind aber sehr gelungen und nach ein paar Läufen gefällt auch diese Version sehr.
We are aliveBeginnt als ruhige Solo-Akkustik-Nummer und bekommt dann nach und nach mit mehr Instrumenten immer mehr Schwung. Mir persönlich zu countrylastig. Der Song handelt inhaltlich von Wiederauferstehung.
Swallowed up (in the belly of the whale)Ein ganz ruhiger, atmosphärischer Song, der eine sehr düstere, pessimistische Aussage hat. Interessant instrumentalisiert, das Geigensolo zum Ausklang gefällt mir sehr.
American LandEbenfalls aus den Live-Shows bekannt. Zum Abschluss wird nochmal Fahrt aufgenommen. Die Dynamik der Live-Version wird gut aufgenommen und kommt auch hier richtig zur Geltung. Thematisch eine schöne Abrundung des Albums. Es zeigt aus welchen Werten und Ideen Amerika entstanden ist und worauf es sich berufen kann (und auch sollte).
Beeindruckend, wie ein mittlerweile 62 Jahre alter Mann ein Album auf den Markt bringt, das so vieles Neues bietet und dieses Neue mit so viel Tradition verbindet. Ein riskantes Unterfangen, welches nach meiner Meinung aber gelingt. Textlich ist diese Scheibe unheimlich schlüssig und es wird deutlich, warum Bruce die drei älteren Songs mit drauf gepackt hat. Sie bilden wichtige Säulen des Albums und runden es thematisch wunderbar ab.
Wo „Wrecking Ball“ letztendlich in Bruces Diskographie einzuordnen ist, wird die Zeit zeigen. Im Moment habe ich auf jeden Fall viel Spaß mit der Abrissbirne.