Hier meine Rezension, die ich im Laufe der letzten Tage schon begonnen habe und die ich morgen auch auf Amazon veröffentlichen werde. Habe ja bereits an anderer Stelle hier schon so meine Bewertungen abgegeben, die ich jetzt nach mehrmaligem Hören auf einer richtigen Anlage zum Teil leicht revidiert habe. Einige Formulierungen in der Rezension werden Euch vielleicht bekannt vorkommen, hoffe aber, ich habe nicht zu sehr "den Guttenberg gemacht". "We take care.... gefällt mir übrigens plötzlich viel besser als bisher. Bin absolut begeistert! Album wird mit jedem Hören besser.
Bewertung 4,5 Sterne von 5 (da es bei Amazon keine halben Sterne gibt, vergebe ich 5)
Folkrock im modernen Gewand: Der Boss so innovativ wie nie zuvor und relevant wie eh und je
Wrecking Ball wird die Hörerschaft in mindestens zwei Lager spalten: Das eine Lager wird enttäuscht sein, dass es auch diesmal wieder kein zweites Mainstream-Album á la Born in the USA (und auch kein E-Street-Klassiker wie Born to Run oder Darkness on the Edge of Town) geworden ist. Das andere Lager, und zu dem zähle ich mich, wird begeistert sein, weil es Bruce Springsteen mit Wrecking Ball wieder einmal geschafft hat, etwas Neues, etwas völlig Unerwartetes zu machen. Nie zuvor hat Springsteen so auf elektronische Sounds gesetzt – von Drum-Loops über Hip-Hop-Klänge bis hin zu einem kleinen Rap-Part (in Rocky Ground) – , was für den klassischen Springsteen-Fan zunächst etwas verstörend wirken mag. Der neue Sound hat wenig mit dem Heartland-Rocker zu tun, zu denen Bruce Springsteen lange nicht zu Unrecht gezählt wurde und der das Genre maßgeblich geprägt hat. Keine Mundharmonika, kein Piano von Roy Bittan und erst Recht (mit einer Ausnahme) kein Saxophon, also kein E Street Sound. Überhaupt, den neuen Sound, produziert von Ron Aniello, der Brendan O´Brien ersetzt hat, traut man Bruce Springsteen erstmal gar nicht zu. Dies ist definitiv ein Solo-Album, ähnlich wie 1987 das Tunnel of Love-Album, Mitglieder der E Street Band sind auf Wrecking Ball nur sehr vereinzelt, wenn überhaupt zu hören. Wahrscheinlich war, was den Sound angeht, Bruce Springsteen mit Wrecking Ball noch nie so innovativ und mutig in seiner seit 40 Jahren anhaltenden Karriere. Lange hat er nicht mehr so gute, tiefgründe und wütende Texte geschrieben – es geht in den meisten Songs um Amerika in der Finanz- und Wirtschaftskrise und natürlich über den American Dream – vor allen Dingen aber hat seine Stimme lange nicht mehr so gut und markant geklungen wie auf diesem Album.
Insgesamt vereint Bruce Springsteen auf Wrecking Ball zwar alle Stile seiner Alben seit The Rising. Heraussticht vor allem das 2006er-Album „The Seeger Sessions“, viele Songs, vor allem in der ersten Hälfte des Albums sind sehr folklastig, was nicht jedem gefallen mag. Gleichzeitig gibt es aber auch Songs, die gut auf Devils and Dust und The Rising und sogar auf Born in the USA gepasst hätten. Aber dann wiederum gibt es da den Song Rocky Ground, mit dem Springsteen gänzlich Neuland betritt: Hip-Hop-Sounds, Rap und Gospelchöre sind darin enthalten, aber unterlegt von einer wunderbaren Ohrwurmmelodie. Selbst der Rap – und normalerweise hasse ich Rap und Hip-Hop – passt hier hinein.
Wenn man etwas kritisieren kann, dann, dass meines Erachtens an manchen Stellen zu oft auf elektronische Sounds gesetzt wird. Ein Schlagzeug muss man nicht unbedingt durch Drum-Loops ersetzen (Land of Hope and Dreams), auch wenn es dadurch gegebenenfalls etwas wuchtiger klingen mag. Hier wäre an manchen Stellen m. E. etwas weniger mehr gewesen.
Für mich ist Wrecking Ball bisher das Album des noch jungen Jahres 2012, denn Bruce Springsteen beweist einmal mehr, dass man auch als sogenannter Altrocker noch innovativ sein kann. Bruce Springsteen wird auch mit Wrecking Ball nicht annähernd den Massenerfolg haben wie seinerzeit mit Born in the USA (erwartet und braucht auch niemand), aber er hat bewiesen, dass er nach wie vor relevant und sicherlich der bedeutendste Rock-Musiker dieser Zeit ist und das kann man nicht von vielen Musikern behaupten, die heute noch durch die Welt touren und im Wesentlichen vom Ruhm alter Tage leben. Es gibt kaum einen anderen Musiker, der nicht nur mich als Fan mit seiner Musik so berührt, sondern dem eine ganze Nation respektvoll zuhört, weil die Amerikaner wissen – auch wenn es die Konservativen/Republikaner oft nicht gerne zugeben – dass Springsteen den Finger in die Wunde legt und wie Bruce Springsteen kürzlich in einem Interview erläutert hat, die Diskrepanz zwischen dem American Dream und der amerikanischen Realität deutlich aufzeigt. Vieles, was Springsteen anprangert sollte man auch nicht auf die USA reduzieren, die Probleme und Missstände in Deutschland oder anderen Teilen der Welt sind durchaus ähnlich.
Zur Einzelkritik:
We Take Care Of Our Own: Es geht rockig los mit Drums im Stile von American Slang von The Gaslight Anthem, ein echter Ohrwurm. Der Text kann ähnlich missverstanden werden wie seinerzeit der von Born in the USA und wird in sämtlichen amerikanischen Medien kontrovers diskutiert (man stelle sich das mal in Deutschland vor, dass über einen Rocksong so gesprochen wird). Obama hat den Song in seine Playlist für den Wahlkampf aufgenommen, obwohl der wütende Text durchaus auch gegen ihn gerichtet ist. Der Song ist eigentlich recht einfach gestrickt, es wird die ständig gleiche Melodie wiederholt (was aber auch Born in the USA bekanntlich nicht geschadet hat). Ärgerlich aus meiner Sicht ist, dass der Song (wieder einmal) viel zu früh und zu lange ausgeblendet wird. Dürfte aber live ein Mitgröhlkracher sein. Solider, etwas eintöniger Album-Opener: 4/5
Easy Money: Einer meiner Lieblingssongs. Die Streicher erinnern stark an Into the Fire vom Album The Rising. Ansonsten ein rockig-folkiger (keltischer) Song, in dem es darum geht, wie man ohne Rücksicht zu nehmen, schnell das große Geld machen kann. Schönes Ende mit der Geige von Soozie Tyrell. 5/5
Shackled and Drawn: Im Stil von Easy Money geht es weiter, also folkig-rockig. Wieder ein brutaler Ohrwurm. Tolle Gitarre und kräftige Drums. Textlich geht es darum, wie sich andere im Rahmen der Finanzkrise auf Deine Kosten bereichern. 4,5/5
Jack of all trades: Eine rührende Springsteen-Ballade, ein Walzer, sehr langsam, untermalt von einem Piano und einem Gitarren-Solo von Tom Morello. Klasse, etwas dahinplätschernde Melodie, aber erst in Kombination mit dem Text wird es zu einem sehr schönen Song, vor allem wenn zur Mitte des Songs die Trompete (kein Saxophon) einsetzt. Der Song endet instrumental mit vielen Bläsern, einem Gitarrensolo von Tom Morello und erinnert an einen Friedhofsmarsch. 4,5/5
Death to my Hometown: Irisch angehauchter Rocker im Stile von American Land. Hört sich stark nach den Pogues oder den Dropkick Murphys an. Melodie wird getragen von der Penny Whistle, ansonsten noch Gospel enthalten. Inhaltlich geht´s wieder um die bösen Banker, die der Wirtschaft schaden, den Arbeitern erst ihre Jobs und dann ihre Häuser wegnehmen, wird zum Ende aber optimistisch. 4,5/5
This Depression: Düstere Ballade, die gut auf Devils and Dust oder auch The Rising gepasst hätte. Gitarren-Solo von Tom Morello. Text wiederum sehr ernst: This is my confession/ I need your heart in this depression, wobei Depression durchaus doppelt gedeutet werden kann. Musikalisch für mich der schwächste Song: 3/5
Wrecking Ball: Der Titeltrack wurde eigentlich anlässlich des Abriss des Giants Stadiums in New Jersey geschrieben, in dem Bruce viele legendäre Konzerte gespielt hat. Obwohl der Text unverändert blieb, steht die Abrissbirne jetzt als Metapher für den Niedergang der Weltwirtschaft. Viele Bläser und Streicher, ansonsten so wie man es von der Tour 2009 bereits kennt. Killer-Track, wahrscheinlich der beste Track und der, der noch am ehesten an den alten nach E Street Sound erinnert: 5/5
You´ve got it: Der Song fällt sowohl textlich wie auch musikalisch komplett aus dem Rahmen, ist aber nicht minder hervorragend. Könnte auch aus den Sessions von Born in the USA stammen, zumindest von der Stimme her, die hier wesentlich jünger klingt. Einige wollen darin sogar Ähnlichkeiten zu Sugarland (aus eben jenen Sessions) erkennen. Für mich ein Höhepunkt des Albums, kommt mit den wenigsten elektronischen Zusätzen aus, wird aber leider erneut viel zu früh ausgeblendet, deshalb nur 4,5/5.
Rocky Ground: Ein Song, wie man ihn niemals von Springsteen erwartet hätte. Auf einen ähnlichen Beat wie Philadelphia, also Drum-Loops, singt Bruce und im Background Michelle Moore den wunderbar melodiösen Refrain mit absoluter Ohrwurmqualität. Zum Schluss gibt es einen kurzen, aber durchaus passenden Rap, den Alabama Gospel Chor und viele Bläser. Nachdem man den ersten Schock überwunden hat, entwickelt sich daraus für mich ein weiterer Höhepunkt des Albums. Textlich wird das Album ab hier optimistischer. 5/5, könnte aber nicht jedermanns Sache sein.
Land of Hope and Dreams: Hmmm! Der Song stammt ja eigentlich von der Reunion-Tour 1999 und gehört in der bisher bekannten Live-Version zu den besten Songs, die m. E. Bruce je geschrieben hat. Jetzt hat er daraus einen mit Drum-Loops untermalten, atmosphärisch sehr dichten Song gemacht, bei dem vor allem auch deutlich die Gospelelemente herausstechen. Einen so guten Song kann man grundsätzlich nicht komplett kaputt produzieren, aber wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich jederzeit die Rock-Live-Version vorziehen, obwohl auch diese hier sehr gut, aber eben völlig anders ist. Immerhin ist dies der einzige Song, auf dem das Saxophon des verstorbenen Big Man zu hören ist, was den Song noch emotionaler macht. Bin gespannt, wie der Song auf der Tour präsentiert wird. In dieser Version: 4/5
We´re Alive: Zum Schluss noch ein religiös angehauchter, optimistischer Song mit akustischen Gitarren und einem an Ring of Fire erinnernden Trompeten-Riff. Die gesungene Melodie erinnert zumindest zu Beginn an My Best was never Good Enough vom Album The Ghost of Tom Joad. Sehr schön und der perfekte Schluss für ein (fast) perfektes Album. 4,5/5
Bonus Track Swallowed Up: Ein an Tom Waits erinnernder Song, sehr düster mit akustischen Gitarren, auf den ich hätte verzichten können. Im Gesamtkontext des Albums aber dann doch ganz gut, als einzelner Song weniger. Textlich nochmal sehr ansprechend. Muss man mehrmals hören. 3/5
Bonus Track American Land: Auch längst bekannt, stammt aus den Seeger Sessions, irischer Folksong im Pogues-Stil, wurde auf den beiden letzten drei Touren auch mit der E Street Band fast allabendlich gespielt. Unterscheidet sich hier leicht von der bekannten Version, einige Drum-Loops zu Beginn, das Ende mit stärkerer Rhytmusbetonung, cool, ansonsten wie gehabt ein klasse Song, von dem ich nicht genug bekommen kann. 5/5
Ein wunderbares, überraschendes Folkrock-Album in modernem Sound, das man nicht vergleichen sollte mit anderen Springsteen-Alben, zumal sich die Alben von Springsteen m. E. eh nicht miteinander vergleichen lassen, weil jedes Album komplett anders ist.
Spieldauer der CD: knapp 62 Minuten Booklet: Sehr schön gestaltet, mit allen Texten und mit einem sehr rührenden Nachruf auf Clarence Clemons.
The Boss is back! Ein Wahnsinnsalbum! Ob´s ein Meisterwerk wird, muss sich erst noch zeigen.
Noch ein kleiner Tipp: Das Album unbedingt laut, bewusst und am Stück hören. Erst dann wirkt es richtig.
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