@ jimmythesaint
Hier ist ein Bericht von dem Konzert, der Nagel auf den Kopf trifft:
Legends of Rock 'n' Roll - 'Little Richard, Jerry Lee Lewis und Chuck Berry' am 23.07.1998 in der Münchener Olympiahalle
Irgendwann zwischen 1952 und 1953 hatte der von weißen Country Sängern wie Hank Williams und
den elektrisierten schwarzen Blues Musikern angerichtete Cocktail, tief im Süden der USA Feuer gefangen
und war als Rock 'n' Roll explodiert. Rock 'n' Roll war, obwohl alle Bestandteile bekannt waren, doch etwas
wirklich Neues und noch nie Dagewesenes. Zum erstenmal gab es für weiße und schwarze junge Amerikaner
eine Musik. Diese Aussage ist auch dann richtig, wenn man bedenkt, daß zumindest in den frühen 50er
Jahren die Rassentrennung noch soweit ging, daß nur schwarze Rock 'n' Roller für Schwarze und weiße
Rock 'n' Roller nur für Weiße spielen durften. Dies führte dann dazu, daß ein Hit immer in zwei Versionen,
einmal mit weißen und einmal mit schwarzen Musikern aufgenommen wurde. Trotzdem blieb es der gleiche
Song, mit dem gleichen Erfolg bei Weiß und Schwarz. Rock 'n' Roll war auch deshalb etwas völlig Neues,
weil es eine noch nie gekannte Einheit zwischen Musik, Musikern und Fans gab. Die Musik war schnell,
laut und wild, die Musiker gebärdeten sich ebenso wild und obszön und die Fans waren so wild und aggressiv,
daß regelmäßig das Mobiliar auf den Tanzveranstaltungen, wo Rock 'n' Roll gespielt wurde, zu Bruch ging.
Halbstark war kein Schimpfwort, sondern eine Lebenseinstellung, die von orientierungslosen Kriegsheimkehrern
gegründeten Vereinigungen, wie die Hell's Angels waren nicht mehr subversive Organisationen, sondern ihre
Mitglieder Helden und Vorbilder. Das diese Energie auch von dem dicklichen und ältlichen Country Sänger
Bill Haley ausgehen konnte, ist aus heutiger Sicht vielleicht verwunderlich, aber die Dreieinigkeit zwischen
Musik, Musikern und Fans funktionierte am besten mit den jungen Protagonisten, allen voran Elvis Presley.
Gelernt hatte der King den Rock 'n' Roll von den wahren Pionieren, die z.B. Little Richard, Jerry Lee Lewis oder
Chuck Berry hießen. Gerade diese großen Drei hat es jetzt nach München zu einem gemeinsamen Konzert
verschlagen. Wenn Herren, die vor 45 Jahren junge Wilde waren, heute annähernd 70 sind oder wie Chuck Berry
sogar schon den 70. Geburtstag eine Weile hinter sich haben, zu einem Konzert laden, auf dem sie die Stimmung
ihrer wilden Jahre beschwören wollen und sich beim Material auf Ihre wirklich kurzen kreativen Phasen verlassen
müssen, (oder kennt jemand einen Jerry Lee Lewis Song aus den 60ern, 70ern oder noch neuer?) dann kann
dies so gruselig werden, wie für einen Splatter Movie erfahrenen Teen, eine Fahrt mit der Geisterbahn auf
dem Oktoberfest, eben nur peinlich. Wir müssen gestehen, diese Angst begleitete uns auf dem Weg zur Olympiahalle,
denn die Bedeutung für die heutige Musik, die die drei "Legenden" mit ihren Songs in den 50er
Jahren begannen, sollte sie alle drei eher heilig sprechen, als sie dem öffentlichen Spott auszusetzen.
Die Olympiahalle war mit ca. 4000 Menschen verschiedensten Alters und Stils (Teddys, Punks, junges
Volk und alte Knacker, wie Dett) schlecht gefüllt. Die PA-Anlage war für die große Halle entschieden zu klein,
was sich weniger in der manchmal fast schmerzenden Lautstärke, als in dem flachen, blechenden Sound
niederschlug. Aber andererseits hat dieser Geiz den Zuhörern die Möglichkeit gegeben, etwas von der
Authentizität der 50er zu erspüren, wenn es auch für heute ungewöhnlich ist, wenn die PA, wie ein
Kofferverstärker, selbst den Gesang verzerrt. Zuerst kommt Little Richard. Er hat die größte Begleitband:
4 Bläser, 2 Schlagzeuger, Baß Gitarre, einen weiteren Pianisten und zwei männliche Tanzmäuse, die ihn
in den nächsten 1 ½ Stunden begleiten. Atrose in beiden Knien und Hüften erlauben zwar keine großen
Schritte mehr, aber Little Richard ist immer noch gut bei Stimme und von keinerlei Minderwertigkeitskomplex
verbogen. Er ist ein souveräner Entertainer und damit der ideale Startup und Vermittler zwischen Publikum und
der Zeitreise die jetzt angetreten wird. Leider ist sein eigenes original Repertoire aus den 50ern für einen
Auftritt dieser Länge viel zu kurz, weshalb er bei Fats Domino und anderen, bis hin zu dem 70er Jahre
Rocker Bob Seger Anleihen nimmt. Bei Bobs "Rock 'n' Roll-Music" bringt er die Security ins Schwitzen,
als er mehr als 50 Zuhörer zum gemeinsamen Tanz auf die Bühne bittet. Die wollen nach der Nummer
dann Autogramme oder Little Richard zumindest die Hand schütteln. Nach dem ihre Wünsche erfüllt sind,
begeben sie sich aber brav wieder in den Zuschauerraum. Little Richard ist ein Clown und man kann ihm
nicht übelnehmen, daß er seine beiden eigenen Nummern "Lucille" und "Tutti Frutti" etwas in die Länge zieht.
Das Publikum nimmt ihn an und singt begeistert mit, wenn Little Richard ihm den Einsatz erteilt.
Ebenfalls zieht er das Ende in die Länge, schon 20 Minuten, bevor er tatsächlich aufhört, beginnt er
jede Moderation mit der Einleitung "... well, I have to go now ...". Um uns herum wird gemunkelt,
Jerry Lee Lewis kann nicht auftreten und deshalb ist Little Richards Auftritt so lang. Der Umbau dauert
nur Minuten und da der Flügel im Zentrum der Bühne bleibt ist klar, Jerry Lee, auch genannt der Killer
wird spielen. Wer den Film über sein Leben mit Denis Quaid gesehen hat, weiß daß solche Gemeinschaftsveranstaltungen
in den 50ern üblich waren, weiß aber auch welche Rivalität unter den Musikern herrschte. Unvergessen ist
die Szene im Film, bei der Jerry Lee den Auftritt des nach ihm folgenden Chuck Berry dadurch verhindert,
daß er den Flügel abfackelt und das alles nur, weil Jerry Lee mit der Reihenfolge der Acts nicht einverstanden war.
Jetzt wartet alles auf Jerry Lee Lewis und der läßt sich Zeit. Jerry Lee wird von dem ehemaligen Leibarzt von
Elvis Presley versorgt, einem Mediziner, der für seinen sorglosen Umgang mit Narkotika jeglicher Art
berüchtigt ist. Jerry soll er vom Heroin auf die leckeren Produkte von Hoechst, Ciba Geigi und anderer
Pharmariesen umgestellt haben, was Jerrys Zuverlässigkeit zu Gute gekommen sei. Aber jetzt warten
alle schon 30 Minuten, daß der Killer kommt. Ist ihm vielleicht doch nicht gut? Nach einer guten halben
Stunde betreten einige grauharige Herren mit Gitarrenkoffern die Bühne, packen ihre Instrumente aus und
beginnen in aller Ruhe mit dem Stimmen. Weitere fünf Minuten später kommt der Ansager auf die Bühne und
sagt die "Jerry Lee Lewis Band" an. Die alten Herren (2 Gitarren, Baß, Schlagzeug) beginnen ziemlich
unmelodiös zu spielen und einer der beiden Gitarristen singt auch noch herzergreifend falsch. Das kann
ja heiter werden, doch nach dieser Nummer kommt Jerry Lee doch in Person auf die Bühne. Was da auf
dünnen Beinen, mit dickem Wanst, starr den Flügel fixierend auf die Bühne wankt ist ein Wrack!
Glücklich schafft er es zum Klavierhocker, läßt sich darauf fallen und starrt verwirrt ins tobende Publikum.
Doch dann sieht er wohl die Klaviertasten und beginnt auf sie mit Urgewalt einzudreschen. Das ist so
ohrenbetäubend laut und falsch, daß ein älteres Paar vor uns mit Entsetzen in den Augen die Halle verläßt.
Jerry Lee Lewis ist "White Trash" von der Sorte, für die die Familie Conner aus der Fernsehserie
"Rosanne" Bildungsbürgertum ist. Ob richtig oder falsch, Jerry ist es egal. Mit ungeheurem Tempo und
Drive hämmert und kreischt er sich durch seine Hits, daß junge Hardcore Musiker sicherlich blaß vor Neid
geworden wären, wären sie anwesend gewesen. Keine Ansagen, keine Überleitungen, Jerry scheint sein
Publikum nicht wahrzunehmen, es ist nur diese Musik in ihm, die sich explosionsartig über die Tastatur
Luft verschafft. Man bekommt einen guten Eindruck warum Jerry Lee der Killer war, auch wenn er heute
nicht mehr mit den Füßen das Klavier mißhandelt, sondern froh ist, das der Hocker, auf dem er sitzt,
fest steht. Mit "Great Balls of Fire" ist nach 20 energiereichen Minuten Jerrys Auftritt schon beendet,
gestützt von Helfern und frenetischem Applaus schwankt er nach hinten und war nicht mehr gesehen.
Wieder eine kurze Umbaupause von fünf Minuten und dann kommt Chuck Berry. Mit 72 Jahren der
älteste der Drei und mit Abstand der fitteste. Chuck Berry, das sind eigentlich drei Künstler in einem.
Chuck Berry, der Komponist unzähliger Rock 'n' Roll Standards, von "Back In The USA" über "Maybellene" und
"Memphis, Tennessee" bis zu "Roll Over, Beethoven", "School Day" oder "Johnny B. Goode". Nummern,
die man nicht nur von ihm, sondern von vielen großen Musikern späterer Generationen gecovered wurden
und immer noch gecovered werden. Der zweite Künstler ist Chuck Berry, der Gitarrist. Er hat die Gitarre
im Rock 'n' Roll erst erfunden, überall auf der Welt kennt man seine Intros. Der dritte Künstler ist aber
der Besondere: Chuck Berry der Performer. Wie soll man etwas beschreiben, was unbeschreiblich ist.
Daß er kein Tempo halten kann, mal schneller mal langsamer wird, Mitklatschen damit unmöglich macht,
ist schon bekannt. Wenn man dann auch noch feststellen will, daß Chuck Berry gar nicht Gitarre spielen kann,
sondern so klingt wie der schlechteste und untalentierteste Amateur, nämlich grauenhaft, wischt er mit einer
bluesigen oder jazzigen Passage diesen Eindruck blitzschnell vom Tisch, um danach wieder minutenlang
zu diletieren. Doch gehen wir ins Detail. Chuck Berry spielt einen Gibson Nachbau von Epiphone. Sicherlich
könnte er sich auch das Original leisten, wie es Eric Clapton oder B.B.King spielten, aber für seinen Stil oder
besser Unstil, brächte das Original keine Verbesserung. Verstärkt wird die Gitarre mit einem alten Fender
Baßverstärker und passender Baßbox, dazu sind die Höhen nach unten reguliert. Das klingt nach tiefstem
Keller und nicht viele in der Halle haben schon einmal eine Gitarre gehört, die soviel akustischen Raum einnimmt.
Die Begleiter (Schlagzeug, Baß und Klavier) kommen in den Passagen, in denen Chuck die Gitarre bearbeitet
nur am Rande vor. Über die Rolling Stones hieß es vor wenigen Wochen, sie vermittelten den Eindruck,
als erfänden Sie Ihre Songs auf der Bühne jedesmal neu. Wer weiß, wieviel Proben die Stones durchlaufen,
bis sie so klingen, erfährt bei Chuck Berry, das es auch völlig anders geht. Chuck hat schon immer erklärt,
er hasse Proben und es ist hinzuzufügen, daran hat sich bis heute nichts geändert. Statt dessen will er
improvisieren, sucht Blickkontakt mit seinen Musikern, um völlig überraschend Tonart oder Rhythmus oder
beides zu wechseln, gelingt es, grinst er breit ins Publikum, wenn nicht, macht nichts. Chuck zieht seine
Show ungerührt von falschen Noten und schleppenden Rhythmen ab. Hier ist alles Kunst. Dazu schleicht er
wie eine Raubkatze über die Bühne, schüttelt sich und seine Gitarre und setzt mehrfach zum berühmten
Entengang an. Die Fans liegen ihm auch um Mitternacht noch zu Füßen und es ist jedem klar, dies ist der
wahre Rock 'n' Roll, anarchisch, laut und spontan. Wir sehen viele verzückte Gesichter von 50 bis 60 Jährigen,
die im Alltag sicherlich auf Ordnung und Korrektheit drängen, denn Chuck hat ihnen etwas zurückgegeben,
was sie längst verloren hatten, die Erinnerung an ihre Gefühle als sie jung waren. Aber Chuck hat nicht nur
eine Botschaft für die Alten, vor uns sitzt eine vielleicht 14 jährige, der vor Begeisterung für den alten Herrn
auf der Bühne, der Mund sperrangelweit offen steht. So will der Applaus kein Ende nehmen. Die Fans haben
erkannt warum "Rock 'n' Roll never dies" kein Spruch, sondern gelebte Wirklichkeit für Chuck Berry und seine
Fans in seinen Konzerten ist. Legends of Rock 'n' Roll war der gemeinsame Auftritt von drei Musikern, ohne die
die heutige Musik anders wäre, jeder für sich war etwas ganz Besonderes, eine Wertung im Sinne einer kritischen
Betrachtung verbietet sich. Oder wie Chuck es sagt: "Long live rock 'n' roll; the beat of the drums loud and bold.
Rock, rock, rock 'n' roll; the feeling is there, body and soul".
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