http://www.whiskey-soda.de/review.php?id=22014Der alte U2-Hakentrick: Immer, wenn es anfängt langweilig zu werden, die Mitte der Straße droht, biegen die Iren schnell links ab. In diesem Sinne folgte 'The Unforgettable Fire' auf 'War' und 'Achtung Baby!' auf 'Rattle And Hum'. Nur: Was würde auf das gefährlich nahe am Rockstandart surfende 'How To Dismantle An Atomic Bomb' folgen? Das kollektive Aufatmen! Studioalbum Nummer Zwölf taucht U2s Zukunft nämlich nicht nur in ein strahlendes Licht, sondern könnte dem Quartett glatt ein paar neue Klienten bescheren. Nicht schlecht für eine Band im dreißigsten Karrierejahr!
Fakt ist: Nichts wäre leichter gewesen als in alle Ewigkeit Platten wie 'All That You Can`t Leave Behind' zu veröffentlichen, die Elder Statesmen zu geben und dem Publikum Zuckerwatte in die Ohren zu packen. So gut dieses Werk immer noch ist, so sicher markierte es eine kreative Sackgasse namens 'Classic Rock'. Was 'klassisch' ist muss sich nicht mehr beweisen. Und kann dann allmählich in die Leichenstarre verfallen. Die Band spürte das Problem genau, wäre ihm mit 'How To Dismantle An Atomic Bomb' sicherlich auch gerne (und möglichst demonstrativ) entkommen, strandete dabei jedoch in der nächsten Sackgasse. Wie man nämlich spätestens seit 'Goldfinger' weiß entschärft man Atombomben nicht durch hektische Bewegungen, sondern durch Selbstironie, Nerven aus Stahl, einen kühlen Kopf, ruhige Hände und…Subtilität. So sprengt 'No Line On The Horizon' die Mauern, gerade weil es das (scheinbar?) überhaupt nicht versucht, und präsentiert eine fast schon postmoderne Variante von U2. Womit keinesfalls 'Pop' gemeint ist. Sich wieder ausschließlich auf das Core-Produzenten-Duo Eno/Lanois zu verlassen, anstatt mehrere Leute ranzulassen, erwies sich dabei als goldrichtige Entscheidung. An Eno alleine kann es jedoch nicht liegen, ansonsten wäre die letzte Coldplay ein Meisterwerk geworden. Der Schlüssel liegt ganz woanders: Es gibt Menschen, die etwas zu sagen haben und es gibt Menschen, die gerne etwas sagen würden.
In diesem Sinne klangen die Iren selten so transzendent, eine angenehme Reife durchzieht die fünfzig neuen Minuten wie ein beruhigender Puls. Ein Puls, der allerdings immer wieder effektiv durchbrochen und gepusht wird. In 'Unknown Caller' gönnt sich The Edge eines seiner seltenen, ausgedehnten Gitarrensoli. Demonstriert mit flirrend, hohen Tönen seine Liebe zu Tom Verlaine (speziell das Solo in Televisions monolithischem 'Marquee Moon') und entfernt sich völlig von dem, was man gemeinhin als U2-typisch wahrnimmt. Larry Mullen Jr. nimmt den Ball auf, schießt ihn gegen und durch die Wand: Dass er ein großartiger Drummer ist, wusste man nicht erst seit gestern, hier übertrifft er sich jedoch selber, bringt Bewegung in die Klangmassen und drischt partiell so hart auf sein Kit ein, dass man kaum noch sagen könnte, wo der Mensch endet und der maschinelle Computer die Kontrolle übernommen hat. Der Mann, der es auf dem Cover von 'Achtung Baby!' noch für eine gute Idee hielt, sich komplett nackt zu präsentieren - und damit die Zensoren auf den Plan rief - hält sich dagegen sehr zurück. Adam Clayton betreibt Understatement, schließt sich mit seinem Drummer kurz und liefert das Fundament auf dem die neuen Tracks sich entwickeln können. Mal baut er steinerne Fundamente, mal liefert er Ölteppiche, welche die Musik zum Gleiten bringen. Und Bono? Der parodiert seine messianische Geste mittlerweile hochgradig effektiv, senkt seine Stimme schon mal zu einem Flüstern und gibt Zeilen wie 'Stand Up To Rock Stars. Be Careful Of Small Men With Big Ideas.' ('Stand Up Comedy') oder 'The Right To Appear Ridiculous Is Something I Hold Dear' (im tatsächlich lächerlich betitelten 'I'll Go Crazy If I Don't Go Crazy Tonight') von sich. Und so seltsam die Single 'Get On Your Boots' im Radio auch wirken mag, im Kontext des Gesamtwerkes ergibt sie perfekten Sinn.
Wohl wahr, dass der ausgefeilte Sound von 'No Line On The Horizon' Lichtjahre von Gossen oder Straßenschlachten entfernt ist. Aber das ist eben der Unterschied zwischen rebellischem Teenagertum und dem abgesicherten Leben von Multimillionären. Und als solche schlagen U2 sich verdammt gut. Oder wie es im Titelsong heißt:'Time Is Irrelevant, It's Not Linear' Charakter ist nun mal keine Frage des Alters. Die Rock N’Roll Hall Of Fame wird wohl noch ein Weilchen warten müssen.
PS: Das zwölfte U2-Album wird simultan in fünf Versionen das Licht der Welt erblicken:
1. 08/15-CD
2. Limitierte 08/15-CD im Digipack
3. Limitierte Magazine-Edition-CD (incl. 60 Seiten Heft)
4. Limitiertes Doppel-CD-Box-Set (incl. DVD, Buch, Poster)
5. Limitierte Doppel-LP im Klappcover mit 16-Seiten Booklet