Auch wenn wir einen thread über Presseartikel über das HH konzert haben, dieser Artikel betrifft uns alle. Und er ist genauso grandios geschrieben wie kontrovers.
Mich würde Eure Meinung interessieren. Als ich ihn gelesen hatte (zweimal !) mußte ich sofort an Nick Hornbys Buch "High Fidelity" denken.
Wir, die rollenden Felsameisen sind alle "Jünger" eines Kultes der Springsteen heißt
!
Dazu passt auch klasse der thread
"Wo ist die Magie" von Bobby Jean!
Die Welt, 14.06.
Der Himmel über Springsteen
42 000 Fans pilgerten zum "Boss" in die AOL Arena - Ein Beitrag zur Phänomenologie der Rollenden Felsameise
von Stefan Grund
Welch ein Gewimmel aus blauen und weißen, einigen roten und grellgelben Tupfern. Welch ein Gemurmel, das aufsteigt zum blassgrauen Himmel. Wir beobachten aus erhöhter Warte gebannt 42 000 Exemlare der Spezies der Rollenden Felsameise, die ihre Siedlungen verlassen haben, um sich für Stunden in einer oberirdisch angelegten, aus Beton gegossenen Mulde mit dem Fassungsvermögen sämtlicher Plattenläden der Stadt zu versammeln. Wir stellen fest: Die höchst selten possierlichen Tierchen dieser Kolonie ernähren sich ausschließlich von Laugenbrezeln und einem gelblichen Hopfen- und Malzgetränk, das garantiert keine Kohlensäure enthält. Die meisten der Rollenden Felsameisen sind übrigens - das wissen wir aus der Fachliteratur - Arbeiter und haben frei. Nur die grünen unter ihnen, die müssen arbeiten, haben im Moment aber nichts zu tun, spielen also Karten. Schlagartig ändert sich das Bild: Der Boss, der bei der Rollenden Felsameise die Königin ersetzt, betritt eine kleine, weiß strahlende Anhöhe auf der Südseite der Mulde. Und in von ihm wegtropfenden Trauben richten sich die Massen auf ihn aus. Ein einziges wogendes Wesen bilden sie nun - eine Wiese, deren Halme gleitend im phonstarken Wind des Rock'n'Roll schwingen. Sie singen mit. Jede Silbe. Jeden Ton. "Born in the USA" singt der Boss, der eigentlich Bruce Springsteen heißt und als fliegende Felsameise aus dem Ursprungsland der Rollenden zurzeit weltweit seinen Artgenossen den Rücken stärkt. Und er wäre vermutlich nicht der Boss, wenn ihm das nicht unvergleichlich gelänge. "The Rising" singt er und der Himmel über Springsteen weint ein paar Tränen. Aber er fängt das auf. Seine E-Street Band - die aus der Ameisenstraße - spielt das weg. "My love will not let you down", atmet der Boss ins Mikrofon, den Blick der dunklen, geheimnisvollen Augen in unergründliche Weiten gerichtet, also glauben wir das. "Empty Sky" singt er und "Waiting for a Sunny Day". Ja, genau das wollen wir hören. Das Wetter nämlich ist für die Rollende Felsameise in Hamburg eines der wichtigsten Themen in ihrem kurzen, häufig freudlosen Leben. Selbst die grünen Exemplare haben jetzt ihre Kammer verlassen, sitzen auf der Tribüne und müssen schlucken. Der Boss aber lässt es nicht zu, dass der Weltschmerz das Gemüt der Felsameise - die mühelos das Zwanzigfache ihres Seelengewichts an Kummer mit sich herumtragen kann - gänzlich erdrückt. Er ist ja doch einer von ihnen, sogar einer der wenigen mit Humor. Er hängt sich kopfüber ans Mikro, er nimmt Anlauf und rutscht meterweit auf den Knien über den vorderen Bühnenrand. Er singt "Out in The Street", erzählt von "Bobby Jean", dem "Hungry Heart" und lädt sie mit der Energie von "Seven Nights to Rock" wieder auf. Gerade, als die Felsameisen anfangen wollen, sich auf dem Betonboden so richtig wohl zu fühlen, setzt Springsteen sich ans Klavier und wirft sie mit "My City of Ruins" unvermittelt in die Schwerelosigkeit. Im Schwarm fliegen sie über das "Land of Hope and Dreams" bevor sie zu Tanzenden Felsameisen werden, die mit einem unglaublich guten Gefühl im Magen durch die Nacht zurück in ihre Siedlungen wimmeln.
Artikel erschienen am 14. Jun 2003