Bruce Springsteen: "Hammersmith Odeon, London 1975" – Eine Nacht im Leben des jungen Boss
JOURNALISTS Der Mythos besagt, dass in der Jugend eine Leidenschaft liegt, wie man sie im Erwachsenenleben nie wieder erlangt. Wer das erste London-Konzert des jungen Springsteen hört, weiß, dass Mythen niemals lügen. Die Zukunft des Rock’n’Roll hatte begonnen.
by Nils Jacobsen
Jeder hat im Kindes- und Jugendalter seine eigenen Helden, sein ganz großes Idol, das er bewundert, dem man nacheifert, jemand, der man selbst gerne wäre. Meines war der Mann, den alle nur den Boss nannten. Und um es gleich vorweg zu nehmen: Ein Großteil der Bewunderung ist bis heute geblieben. Born in the USA war meine erste Cassette, 11, war ich damals, 1985, als ich sie mir nach mehrere Monaten gespartem Taschengeld schließlich kaufen und auf dem tragbaren Hitachi-Rekorder meines Vaters hören könnte – Relikte der Achtzigerjahre eben.
Der Boss war alles, was man sich als 11-jähriger Knirps zum Idol schnitzen konnte. Natürlich verstand ich damals mit dem Schulenglisch der 5. Klasse nicht annähernd, worum es eigentlich ging. Doch das machte nichts. Allein die Bilder sprachen: Dieser kernige coole Typ in seinen ausgewaschenen Levi’s Jeans, den Cowboy-Stiefeln, der Baseballcap, dem Stirnband und diesem Blick.
>> Kreative Schaffenskrise zu Beginn der 90er-Jahre
Keine Frage: Bruce war der Coolste. Dass es in Born in the USA um eine gesellschaftskritische Anti-Vietnam- Abrechnung ging statt um eine patriotische Hymne, missverstand ich seinerzeit ebenso wie US-Präsident Ronald Reagan. Und auch, dass die Protagonisten des Boss – die unzähligen Johnny 99s, Jimmys oder Bobbys – in Wirklichkeit bestenfalls tragische Helden (und in den meisten Fällen nicht mal das) waren, sollte ich erst drei Jahre später lernen, als Springsteen mit Tunnel of Love das vielleicht beste, in jedem Fall aber meist unterschätzte Album seiner Karriere veröffentlichte – ein Album der leisen Töne.
Danach wurde es still um den einstigen Vorzeigerocker der USA. Fast fünf Jahre nach Tunnel of love erschienen die mediokren Nachfolger Human Touch und Lucky Town, die angesichts der Grunge-Invasion aus Seattle um Nirvana, Pearl Jam oder Soundgarden wie das Alterseingeständnis eines saturierten Rockers klangen, der in 57 Channels and nothin’ on selbstironisch von sich behauptete:
I bought a bourgeois house in the Hollywood hills
With a truckload of hundred thousand dollar bills
Man came by to hook up my cable TV
We settled in for the night my baby and me
We switched 'round and 'round 'til half-past dawn
There was fifty-seven channels and nothin' on
>> Fünf goldene Jahre: Born to run, Darkness on the edge of town und The River
Mit dem von John Steinbeck inspirierten Akustik-Album The Ghost of Tom Joad kehrte Springsteen 1995 zu seinen Wurzeln zurück, die er seit 1982 mit Nebraska verlassen hatte: Es war ein Album über die Zurückgelassenen mitten in den boomenden Neunzigerjahren. Drei Jahre später folgte ein Best-of-Album mit drei neuen Songs, dann die Wiedervereinigung mit seiner legendären E-Street-Band, ehe dem Boss 2002 mit The Rising im Nachhall von Nine-Eleven ein viel beachtetes Comeback glückte. Auch das wieder melancholischere Soloalbum Devils & Dust aus dem letzten Jahr, das wieder in Tradition von Nebraska und Tom Joad steht, wurde von Kritikern wohl wollend angenommen.
Doch bei ehrlicher Betrachtung konnte eigentlich keines der letzten fünf, sechs Alben an den Glanz der ganz frühen Karriere Springsteens anknüpfen – seiner fruchtbarsten Periode, in der Springsteen innerhalb von fünf Jahren die Meisterwerke Born to run, Darkness on the edge of town und The River raushaute als wäre es nichts. Der Boss muss sich für die nachlassende Verve im Alter nicht grämen: Es ist das Gesetz des Alterns, das Gesetz des Rock’n’Roll, dass der Schaffenskraft der frühen Tage ein Zauber innewohnt, der nie wieder erreicht wird, nie wieder erreicht werden kann. Die Rolling Stones etwa, die sich mit seltsamen bis peinlichen Alterswerken eine viel größere Blöße geben als Springsteen, sind der beste Beweis dafür.
Warum dieser viel zitierte Mythos jedoch auch vor dem wahrscheinlich besten lebenden Livemusiker der Rock’n’ Roll-Ära nicht Halt macht, beweist Springsteens legendäres Konzert im Hammersmith Odeon in London anno 1975. 30 Jahre nach der Veröffentlichung vom Jahrhundertalbum Born to run brachte Springsteens Plattenfirma Sony im letzten November ein wunderbares Boxset mit der digitalisierten Fassung Born to run, eine DVD zur Entstehung des Meisterwerks und eben jenes sagenumwobene Konzert auf DVD auf den Markt. Das Echo auf Springsteens Konzertmitschnitt war so umwerfend, dass sich der Boss nun zur Einzelveröffentlichung auf CD entschloss.
>> E-Street Shuffle: Wer schert sich mitten in einer warmen Sommernacht um die Realität?
Die Siebzigerjahre waren ein seltsames Jahrzehnt. Das kann man wahrscheinlich über jedes Jahrzehnt sagen – doch die Siebziger waren doch ein bisschen seltsamer als die konformistischen Fünfziger, die rebellischen Sechziger, die poppigen Achtziger und die zukunftsgläubigen Neunziger. Gerade darum ähneln sie wahrscheinlich so frappierend den 2000er-Jahren: Viele Träume schienen zu Ende gegangen zu sein. Der Traum der amerikanischen Unverwundbarkeit wurde durch Vietnam, den Ölpreisschock oder Iran zerstört – und, schlimmer noch für eine ganze Generation, der Traum des Rock’n’Rolls durch das Ende des Beatles und den Abstieg des Stones und schließlich den Tod des Kings, Elvis Presley. Kurzum: Es war eine Ära der geplatzten Träume.
Und doch kommt nach jedem Winter, wieder ein neuer Frühling, ein neuer Sommer, der alle die Träume und Verheißungen wieder von Neuem erwachen lässt, selbst, wenn sie unberechtigt, närrisch und vielleicht auch ein bisschen töricht erscheinen mögen – das ist der Zauber des Neuanfangs. Wer schert sich schließlich mitten in einer warmen Sommernacht um die Realität, um Logik, um Wahrscheinlichkeiten – in Augenblicken, in denen "Sommernächte zu Sommerträumen" werden, wie es in einem von Springsteens ersten Songs, E-Street Shuffle so schön heißt.
Wenn man jung war, und an den Geist des Rock’n’Roll glaubte, konnten in jeder Nacht Träume wahr werden, konnte es in jeder Nacht passieren. Und ausgerechnet in einer grauen Novembernacht anno 1975 passierte es dann. Bruce Springsteen spielte das bis dato beste Konzert seiner noch jungen Karriere im Ausland, im fernen London – in einer Stadt also, die er bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte und in der Retrospektive "als Ort unserer mythischen Helden" beschrieb, in dem es "noch nicht einmal das erste McDonalds gab."
>> 18. November 1975, Hammersmith Odeon, London: History in the making
Der Meilenstein Born to run war gerade drei Monate veröffentlicht, da wurde Springsteen bereits als kommender Superstar empfangen. Was der junge Boss, der damals noch weit von diesem Status entfernt war, auf der Bühne des legendären Hammersmith Odeon an jenem Abend ablieferte, war nicht weniger als History in the making, wie es im Engschlichen so treffend heißt. Noch etwas unbeholfen auf der Bühne – jenem Ort, der für Springsteen später eine zweite Heimat werden sollte –, spielte der Boss das Set seines Lebens.
Innerhalb von nur drei Jahren hatte Springsteen drei Alben veröffentlicht, auf denen sich bis heute unerreichte Perlen wie 4th of July, Asbury Park (Sandy), Backstreets, It’s hard to be a saint in the city, Jungleland oder eben Born to run aneinanderreihten – ungeschliffene Rohdiamanten, die in Springsteens Live-Interpretation einen neuen Glanz bekamen.
>> Romantik revisited: Eine Nacht kann das Leben verändern
Wem die Liveversion von Thunder Road, bis heute einer der ultimativsten Springsteen-Klassiker, nicht nahe geht, fehlt schlicht das Gespür für die großen Momente des Rock’n’Roll. Wenn der junge Boss voller Verzweiflung seiner Jugendliebe die Definition von Glück erklären will (Don't run back inside, Darling you know just what I'm here for / So you're scared and you're thinking that maybe we ain't that young anymore / Show a little faith, there's magic in the night), dann klingt das so, als ginge es um sein Leben.
Und das tat es tatsächlich! Im nicht mehr ganz jungen Alter von 26 stand Springsteen, der vor Born to run nicht mehr als ein Hoffnungsträger war, im Zugzwang, den großen Wurf zu landen, der ihn vom lästigen Etikett des Talents befreien würde. In jener Nacht im November 1975 gelang dieser große Wurf – dieser eine Homerun, dieser eine Lucky-Punch, dieses eine Ass, dieser eine Drei-Punktewurf, eine Sekunde vor der Schlusssirene.
Keine Frage: Springsteen hat in den nächsten drei Jahrzehnten längere, routinierte und bessere Konzerte gegeben. Doch darum geht es nicht. Hammersmith Odeon, London 1975 fängt den Zauber eines ganz besonderen Abends ein: Einen Abend, von dem man auch 30 Jahre später auf dem iPod mitten im Alltagsmief in der überfüllten U-Bahn um halb sieben an einem Montag spürt, dass etwas wirklich Bedeutendes passiert. Etwas, was den jungen Bruce zum späteren Boss machen sollte, etwas, was das eigene Leben berührt, weil es die Romantik jener Tage und Nächte noch einmal greifbar macht, an denen man für Dinge, die einem die Welt bedeuteten, ohne viel Aufhebens bereit war, sein letztes Hemd zu geben – und vielleicht gar noch mehr.
Schönen Gruß
Mlaerknecht