Als Ende des Sommers die Meldung kam, dass Bruce und die E Street Band wieder ein neues Album herausbringen und ebenfalls bekannt wurde, dass sie das Album praktisch live aufgenommen haben, kannte meine Vorfreude kaum Grenzen. Die ersten Reviews nährten diese Erwartungshaltung dann nochmals und was soll ich sagen: Nach den ersten Hörgängen war ich doch etwas enttäuscht. Ich fand das Album zwar in Ordnung, aber der Funke sprang nicht wirklich über, so dass ich es nach einer Woche auch erst mal zur Seite legte. In den letzten Tagen habe ich die Scheibe wieder häufiger aufgelegt und ich kann das Album mittlerweile als gutes Album genießen, das aber auch ein paar Schwachstellen mitbringt.
One Minute You’re HereErinnert mich instrumental und stimmlich an „The Ghost Of Tom Joad“ oder „Devils & Dust“ Zeiten. Als Album-Intro durchaus gelungen, wobei mich das Lied emotional nicht so abholt wie ruhigere Lieder auf den Veröffentlichungen der jüngeren Vergangenheit (bspw. „The Wall“, „The Wrestler“).
Letter To YouSo sehr ich den atmosphärischen Einstieg mit der vorherigen Nummer mag und auch „Letter To You“ mit seiner Message als tollen Part einer Albumeröffnung sehe, so seltsam und konstruiert wirkt der Übergang zwischen den beiden Stücken auf mich. Bruce Stimme klingt im Vergleich sehr unterschiedlich und die gesamte Abmischung ist anders. "Letter To You" an sich ist gute Bruce-Standard-Kost. Besonders schön finde ich bei dieser Nummer Charlies Einsatz am Organ. Die Passage bei Minute 3:46 finde ich total gelungen – ein typischer „Bruce-Klick-Moment“ für mich – Feels like coming home.
Burnin‘ TrainVom Sound dienen hier die Alben „Human Touch“ und „Lucky Town“ als Referenzen, was aus meiner Sicht leider mit einer gewissen musikalischen Einfältigkeit Hand in Hand geht. Der Song hat dank Max kraftvollen Schlagzeug-Spiels einen coolen Drive, aber es passiert nichts Außergewöhnliches wie beispielsweise ein spannendes Solo. Das Lied wirkt so ein wenig, wie ein „gewollter Rock-Song“, dem dann aber doch die letzten Prozent Energie und Rauheit fehlen.
Janey Needs A ShooterDer erste der drei Tracks, die Bruce bereits Anfang der 70er-Jahre geschrieben hat. Nicht nur textlich äußerst kreativ und wortgewaltig, wie man es vom jungen Bruce kennt, sondern auch musikalisch mit dem Spirit ausgestattet, den ich mir von der Liveaufnahme mit der Band erhofft hatte. Spätestens mit Einsatz der Mundharmonika schaltet die gesamte Band in den höchsten Gang. Stevie (oder Nils) spielt tolle kleine Fills und glänzt mit seinen Backing Vocals. Im Outro zeigen dann Max und Roy ihre ganze Klasse.
Last Man StandingThematisch ist der Song nah dran an der Single „Ghosts“ und ich finde diesen Track sehr gelungen. Der einsame, nachdenkliche Bruce, der während des Intros nur mit Akustikgitarre singt:
„Faded pictures in an old scrapbook / Faded pictures that somebody took / When you were hard and young and proud / Back against the wall running raw and loud”. Das ist wieder so ein Part, den nur Bruce so bringen kann wie Bruce.
Insgesamt hat dieser Track einen schönen Aufbau und eine tolle Melodie. Auch wenn das Lied seinen Ursprung im Tod der anderen ehemaligen Bandmitglieder seiner Schülerband „The Castiles“ hat, ist der starke Saxophone-Einsatz hier vermutlich kein Zufall und schlägt aus meiner Sicht auch nochmal die Brücke zu Clarence.
The Power Of PrayerSprach man nicht im Vorfeld von einem Rock-Album mit der E Street Band?
Für „Power” im Titel kommt der Song recht seicht und beliebig daher. Vielleicht ist das ja Power-Pop?
Der Text ist teilweise schön geschrieben, holt mich aber leider nicht ab. Zudem stört mich die extreme Ähnlichkeit zu der (schönen) Melodie von „Last Man Standing“. Back to back wirkt das dann doch etwas einfallslos.
House Of A Thousand GuitarsEin schönes Ablenkungsmanöver einen Song mit solch einem Titel mit einem ausgedehnten Piano-Intro zu starten, welches dann auch noch mit einigen Jungleland-Referenzen gespickt ist. Emotional fällt der Song natürlich auf fruchtbaren Boden und wärmt das Herz, wenn man sich in Gedanken in hoffentlich ein, zwei Jahren wieder auf Konzerten sieht. Neben dieser hoffnungsvollen Melancholie muss man aber auch festhalten: Musikalisch ist der Song leider recht unspektakulär. Vielleicht hätte ein schönes, melodisches Gitarren-Solo am Ende den Song auf ein anderes Level gehoben?
RainmakerDieser Song klingt für mich nach einer anderen Aufnahme-Session. Irgendwie sprang mich direkt beim ersten Hören der Gedanke nach „The Rising“ an. Ich habe den Doku-Film zu den Aufnahmesessions nicht gesehen. Aber kam „Rainmaker“ im Film vor? Vielleicht kann ein Insider mal berichten.
Bruce Stimme gefällt mir hier sehr gut und der Song hat viel Kraft im Refrain, welche den vorherigen Songs teilweise etwas abging. Auch die Metaphorik finde ich sehr gelungen.
If I Was A PriestMein Favorit der Platte. Band und Bruce verschmelzen hier in Perfektion. Jede gespielte Note untermalt Bruce Gesang während er eine ziemliche abgedrehte Szenerie beschreibt:
"And Jesus is standing in the doorway / In a buckskin jacket, boots and spurs so fine / Says, "We need you, son, tonight up in Dodge City / 'Cause there's just too many outlaws / Tryin' to work the same line". Auch in diesem Song glänzen Roy und Max wieder auf besondere Weise. Ebenfalls ein schöner Moment ist, als die Band im Chor für die letzten Refrains mit einsteigt.
GhostsEin weiterer Kracher und fungiert im direkten Übergang mit dem „alten Material“ deutlich besser als die Songs zu Beginn des Albums. Dies liegt vermutlich daran, dass „Ghosts“ von den neuen Songs der Energiegeladeneste ist. Noch besser als zuvor bei „Last Man Standing“ funktioniert die Verbindung zwischen Melancholie und Energie. Ein echter E Street Band Song und mit Garantie ein Dauergast in zukünftigen Setlists.
Song For OphransVon den alten Songs, der Song, der mich aktuell am wenigsten fesselt. Auch hier ist Bruce wieder wortgewaltig unterwegs und es drängt sich der Vergleich zu Bob Dylan auf. Der instrumentale Mittelpart weiß zu gefallen.
I’lL See You In My Dreams„I’ll See You In My Dreams“ bildet mit “One Minute You’re Here“ einen schönen Rahmen für das Album und führt den inhaltlichen Faden von dem Opening Track über „Letter To You“, „Last Man Standing“ und „Ghosts“ zu Ende. Ein schöner, hoffnungsvoller Ausklang des Albums.
Insgesamt ist es ein gutes Album geworden und ich war vielleicht selber ein wenig schuld mit zu hohen Erwartungen an die Scheibe heran gegangen zu sein (Anfängerfehler
). Für mich kommt bis zu „Last Man Standing“ wenig Spielfluss auf und das Album wirkt ziemlich zusammengeschustert. Seltsamerweise sind dann gerade die folgenden neuen Songs „Last Man Standing“, „The Power Of Prayer“ und „House Of A Thousand Guitars“ von ihrer Machart her fast schon wieder zu ähnlich und wenig abwechslungsreich. Vielleicht war die Zeit fürs Schreiben der neuen Songs (eine Woche) und für die Aufnahmen (fünf Tage) doch etwas zu kurz gewählt.
Einer der Hauptgründe für meine etwas gedämpfte Euphorie dürfte allerdings auch sein, dass die Platte für mich überraschenderweise keinen guten Sound hat. Durch die „Wildflowers“-Wiederveröffentlichung von Tom Petty, die einen überragenden Klang hat, hatte ich auch hier mit einem ähnlichen Klangerlebnis gerechnet. Leider zeichnet sich das Album durch wenig Dynamik und so gut wie keine Räumlichkeit aus (Andibuss hat das hier im Forum bereits sehr gut beschrieben). Ich dachte im Vorfeld etwas naiv: "Just in dem Moment, in dem ich mir einen Plattenspieler anschaffe, veröffentlicht Bruce ein live eingespieltes Album mit der E Street Band – das muss gut werden." Wurde es leider in diesem Aspekt nicht.
Was mir viel Freude bereitet, ist wie sehr Roy Bittan und Max Weinberg auf diesem Album aufspielen dürfen. Gerade Mighty Max finde ich überragend auf diesem Album. Er hält die Songs zusammen und spielt zeitgleich sehr schöne Nuancen. Auf der anderen Seite muss man aber auch fragen, wo Nils Lofgren teilweise abgeblieben ist. Er ist aus meiner Sicht das einzige Bandmitglied, das fast gänzlich unbemerkt auf der Platte mitspielt, was aufgrund seiner phänomenalen Fähigkeiten sehr schade ist.
Nochmal sei betont, dass es unterm Strich eine gute Scheibe geworden ist und ich sehr froh über die Veröffentlichung bin. Insbesondere mit „If I Was A Priest“ und „Ghosts“ sind zwei echte Knaller vom Laster gefallen, mit denen und insbesondere deren Energie man im Spätherbst der Karriere nicht unbedingt rechnen kann.