[quote="-sophie-"] Puh, wo soll man da bloß anfangen ...
Hiermit: Von einer autorisierten Musikdoku wie Road Diary erwartet niemand investigativen Journalismus
Jan Jekal über Bruce Springsteen: Bitte mehr vom Boss Mit dem Film "Road Diary" versucht Bruce Springsteen, seine Lebensgeschichte endgültig zum musikalischen Mythos zu erklären. Was der Dokumentation nicht nur guttut.
Es gibt einen besonders berührenden Moment in Road Diary: Bruce Springsteen and the E Street Band, in dem Springsteen alleine auf der Bühne steht, eine Akustikgitarre umgeschnallt, und den Song Last Man Standing spielt. Ein Lied, das er vor einigen Jahren geschrieben hat, als ihm bewusst wurde, dass er das einzige noch lebende Mitglied seiner ersten Band ist. An einem früheren Punkt im Film haben wir diese Band auf einem Schwarz-Weiß-Foto gesehen: Teenager mit Beatles-Frisuren und pubertär-ernster Miene. The Castiles. Das war 1966. Einer von ihnen ist schon im folgenden Jahr in Vietnam gestorben. "The lights go down as you face the crowd", singt Springsteen, Mitte 70, die Kamera ganz nah. "The last man standing now." Über mehrere Monate hat der Regisseur Thom Zimny erstaunlichen Zugang zu Bruce Springsteen und seiner E Street Band bekommen. Im Februar 2023 ging die legendäre Gruppe aus New Jersey zum ersten Mal seit sieben Jahren auf Tour. Zimny hat sie von den ersten Proben über die USA-Tournee bis nach Europa begleitet. Sein Film Road Diary – mit gut 90 Minuten ungefähr halb so lang wie ein Springsteen-Konzert – ist eine Mischung aus Livemitschnitten und Behind-the-Scenes-Aufnahmen, Interviews und Archivmaterial. Führt man sich vor Augen, was Zimny in diesen Monaten mit der Band alles dokumentiert haben wird, muss man enttäuscht sein, dass nichts Mitreißenderes entstanden ist als dieser solide Imagefilm. Man versteht aber, warum Springsteen seit Jahren gerne mit Zimny arbeitet. Der hat unter anderem die Aufnahmen zum Album Letter to You (2020) gefilmt und auch Springsteens Broadway-Gastspiel 2018/19; er ist so etwas wie des Bosses Hausfilmer, ein staunender Bewunderer, mehr Hagiograf als Biograf. Das ist auch völlig in Ordnung: Von einer autorisierten Musikdoku wie Road Diary erwartet niemand investigativen Journalismus, und die kritische Auseinandersetzung sollen ruhig andere machen. Nein, es geht darum, die Besonderheit, Energie und Intensität des Künstlers zu transportieren, sie erfahrbar zu machen, auch für Leute, die – wie im Falle Springsteens – nicht mehrere Hundert Euro übrig haben, um sich Konzertkarten zu kaufen. Um all das festzuhalten, ist ein Fan nicht die schlechteste Person.
Das Pulver wird nicht verschossen Warum aber zeigt Zimny uns so viel anderes als die Band bei der Arbeit? Die lohnenswerten Momente sind vor allem die, in denen wir die Band sehen, wie sie macht, was sie macht. Der Gitarrist und Arrangeur Stevie Van Zandt, der sich wie ein Chemiker im Labor hoch konzentriert über Notenblätter beugt, oder Drummer Max Weinberg, der mit kindlicher Freude die Becken schlägt, oder Springsteen selbst, der mit lässigen Hand- und Hüftbewegungen den Backing-Chor dirigiert. Das ist alles toll. Zimny hätte einfach eine Kamera im Proberaum installieren, sie eine Viertelstunde laufen lassen und das gedrehte Material ungeschnitten in den Film aufnehmen können. Nichts hingegen ist langweiliger als ein im sterilen Studio gedrehtes Interview mit einem Backing-Sänger, der Dinge sagt wie "Bruce ist strukturiert, aber zugleich flexibel". Zimny hat mit allen E-Street-Band-Mitgliedern gesprochen, mit allen Bläsern und mit allen Sängern, sie sind alle liebenswert, und man glaubt ihnen jedes Wort. Einige Interviews bringen sogar Unbekanntes zutage, wie das Interview mit Patti Scialfa, Springsteens Ehefrau und Backing-Sängerin der Band, die über ihre Krebserkrankung spricht, oder das mit Stevie Van Zandt, der – mit perfektem Timing, als wäre er immer noch Schauspieler bei den Sopranos – erzählt, dass Springsteen ihn endlich zum musical director ernannt habe: "Forty years late!" Diese gehaltvollen Interviewmomente sind die Ausnahme. Vielleicht folgt Zimny einer Ansage vom Boss und dessen Produzenten Jon Landau. Nicht das ganze Pulver verschießen, der Konzertfilm kommt später noch. Wer weiß? Springsteen ist jedenfalls als Drehbuchautor gecreditet. Im Gegensatz zu seinen Bandkollegen sehen wir ihn nicht in den Interviews, sondern hören nur seine Stimme, wie sie im Voiceover einen geschriebenen Text etwas gestelzt vorträgt. Nach seiner Autobiografie Born to Run von 2016 und seiner Broadway-Show, in der er jeden Abend den gleichen Songzyklus spielte und Passagen aus dem Buch performte, ist er im Spätwerk angekommen, in dem er seine Lebensgeschichte zum musikalischen Mythos macht.
Warum bekommt man nicht den "real deal"? Das Verstreichen der Zeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit sind die Themen dieses Spätwerks und die Themen dieser aktuellen Tour, die noch bis mindestens nächsten Sommer gehen soll. Eigentlich sind die Shows, die Springsteen mit der E Street Band spielt, dreistündige Rock-'n'-Roll-Partys, ungestüm und ungeplant, mit Setlisten, die mitbestimmt werden von den Zwischenrufen und Plakaten der Fans. Diesmal aber hat Springsteen 25 Songs ausgewählt, die, zumindest in der ersten Phase der Tour, nur minimal variiert und ergänzt werden und Lieder aus fünf Jahrzehnten miteinander verbinden. Er erzählt sein Leben als eine dramatische musikalische Geschichte. Diese Dramaturgie lässt Road Diary allenfalls erahnen. Den groben Ablauf eines Konzertes übernimmt der Film zwar – das kämpferische No Surrender am Anfang, das elegische Soulstück Nightshift in der Mitte, I'll See You in My Dreams als melancholischer Abschied –, aber der emotional kraftvolle Aufbau einer Show wird hier mehr behauptet als gezeigt. Auch beim Konzertteil des Films würde man also die generischen Dokumomente unbedingt gegen weiteres Rohmaterial tauschen wollen. Zimny lässt dann auch noch Fans aus verschiedenen Ländern zu Wort kommen, die ausführlich über das Gemeinschaftsgefühl einer Springsteen-Show sprechen. Alles liebenswert. Aber warum nimmt das so viel Raum ein, wenn man the real deal bekommen könnte? Womit wir wieder bei Last Man Standing sind, dem Song über seine alte Band. Bei dieser Performance bleibt Zimny im Moment, schneidet nicht zu einem Interview oder einem alten Foto. Springsteen spielt das Stück in einem wunderbaren Unplugged-Arrangement, nur mit Bläserbegleitung. Und geht dann sofort in den nächsten Song über: Backstreets von seinem Durchbruchsalbum Born to Run (1975). Eine fantastische Gegenüberstellung, ein bewegender Sprung über die Jahrzehnte, die mitreißende Gegenwart des 50 Jahre alten Backstreets bekommt durch die vorangegangene Elegie ein dramatisches Gewicht; die Lieder färben und bereichern sich gegenseitig. In einer herausragenden Coda wiederholt Springsteen mit heiserer Stimme die Zeile "Until the end" immer wieder, immer wieder, und er müsste es später gar nicht aussprechen, aber tut es in diesem Film ohne Subtext natürlich doch: Er wird weitermachen, bis er nicht mehr kann. Fahren, bis die Räder abfallen.
Until the end.
_________________ Sitting on comfortable seats
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