Ich hab einen Artikel aus der neuen WOM gefunden:
Zitat:
Die Stimme der Verlorenen
Seit mehr als drei Jahrzehnten bereits zählt Bruce Springsteen zu Amerikas Songwriter-Elite. Doch während andere Kollegen in seinem Alter immer ruhiger und milder werden, entwickelt sich der Boss mehr und mehr zu einem wuchtigen Sprachrohr des andersdenkenden Amerika.
Autor: Wolf Kampmann
ALS BRUCE SPRINGSTEEN 1971 die Band Steel Mill verließ und seine ersten Gehversuche als Solokünstler wagte, tobte der Vietnamkrieg. Mit Richard Nixon war ein Präsident an der Macht, der längst den Rückhalt großer Teile des eigenen Volks verloren hatte. Rund um den Erdball demonstrierten Studenten gegen den Terror der Amerikaner in Indochina. Der Protestsong hatte Konjunktur, und auch Springsteens Manager wollte, dass er ein solistisches Folk-Album aufnimmt. Der ehrgeizige Jüngling hatte aber ganz andere Pläne. Er ging mit einer Band ins Studio, die später als E Street Band zur zweiten Haut des Songwriters werden sollte und besang die Freuden und Ärgernisse eines Jugendlichen in der amerikanischen Provinz. Seither sind dreieinhalb Jahrzehnte verstrichen, und Springsteen gehört neben Neil Young und Bob Dylan zu den einflussreichsten Songwritern der USA. Seinen eigenen Kopf hat er jedoch bewahrt, oft zum großen Verdruss all jener, die ihn am meisten verehrten. The Boss, wie er von seinen Fans liebevoll genannt wird, avancierte zur Stimme des Amerika, die seine Meinung gerade heraus kundtut. Doch seit dem 11. September 2001 bröckeln die Allianzen schneller als sie geschlossen werden. Aus einem Sänger, der das amerikanische Lebensgefühl eben noch in Hymnen glorifizierte, kann über Nacht dessen schärfster Ankläger werden.
Auf seinen letzten beiden Alben „We Shall Overcome“ und „Live In Dublin“ ließ der Boss das gute alte Protestlied wieder aufleben und feierte die Folksong-Legende Pete Seeger. Es ist sicher kein Zufall, dass Springsteen sich mit seinem neuen Album „Magic“ nun auf seine musikalische Ästhetik der achtziger Jahre besinnt. Mit der E Street Band kann er Stadien beschallen.
Der Sound der Gruppe klingt nach all den Jahren immer noch wie ein Vulkan, der nicht zur Ruhe kommen will. Eine Urgewalt, die niemand anders bändigen kann als ihr Magier Bruce Springsteen. Doch Springsteen rennt keineswegs unreflektiert zurück. Er nutzt die überwältigende Power der E Street Band, um eine höchst sensible Botschaft zu transportieren. Denn die E Street Band ist viel mehr als eine gewöhnliche Rockband. Sie ist ein auf Miniaturgröße geschrumpftes Orchester, das jedoch sein gewaltiges Volumen beibehalten hat. Springsteen schließt mit dem Sound der E Street Band an jene gewaltigen Klangkaskaden der Broadway-Musicals und des Swing der Vierziger an. Die Wurzeln von Springsteens Rock mögen im Bluegrass, Country und Folk liegen, doch seine Soundgebäude sind ein Äquivalent zu den architektonischen Eskapaden der Wolkenkratzer. „Magic“ ist das erste Album mit der E Street Band seit „The Rising“. Das Album erschien im Jahr 2002 und war eine unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse von nine/eleven. Vor dem Album war der Boss längere Zeit ohne sein bewährtes Vehikel ausgekommen. Doch auf „The Rising“ war die emotionale Aufwallung so groß, dass er ihrer wahrscheinlich einzig mit der E Street Band Herr werden konnte. Das Album war ein spontaner Kommentar in einer Zeit, in der Amerika zusammenrückte. Die allgemeine Desorientierung hatte die Opposition gegen Bush faktisch unter sich begraben. Erst nach und nach fanden einzelne Künstler die Kraft zur scharfen Analyse zurück. Während Springsteen sich auf seinem Album noch auf allgemeine Gemütszustände beschränkte, fand er auf der anschließenden Tour wesentlich drastischere Worte und wandelte sich zu einem Wortführer der Rock-Opposition gegen die amerikanische Irakpolitik. Vor diesem Hintergrund ergibt sein neuerlicher Rückgriff auf die E Street Band gleich in mehrfacher Hinsicht Sinn.
Die Zeiten, in denen jetzt „Magic“ erscheint, unterscheiden sich gar nicht so sehr von jenen, in denen Springsteens Debüt „Greetings From Asbury Park, N.J.“ das Licht der Welt erblickte. Wieder schicken die USA Truppen nach Asien. Aus dem Dschungelkrieg ist Wüstenkampf geworden. Wieder werden Särge nach Hause geflogen, und wieder will Amerikas Präsident nicht wahrhaben, dass seine Felle wegschwimmen. Wie damals hat sich eine künstlerische Opposition gegen die politische Elite formiert. Und – anders als in der Siebzigern – Bruce Springsteen gehört zu ihren resonantesten Stimmen. Schon mit dem ersten Song seines neuen Albums „Magic“ gibt er die Richtung vor, ohne konkret zu werden. „Radio Nowhere“ ist tonnenschwerer Heartland-Rock. Noch legt Springsteen sich inhaltlich nicht fest. Diese unerfüllte Sehnsucht, sich selbst wieder im Rhythmus zu spüren, ist noch relativ neutral. Doch Song für Song wird Springsteen deutlicher. Sich stilistisch dicht an „Born To Run“ entlanghangelnd, kommt er immer mehr zum Kern dessen, was ihn bedrückt. So verkündet er im dritten Track „Living In The Future“, dass „sein Schiff Freiheit in einen blutig roten Horizont davongesegelt“ ist. Auf diese düstere Vision folgen ein paar befreiend leichte Lieder über den amerikanischen Alltag, die voller Anspielungen auf die großen Springsteen-Hits stecken. „Gypsy Biker“ mit seiner schmachtenden Mundharmonika klingt wie ein grandioses Update von „The River“. Der zentrale Song des Albums ist der Titeltrack. Es ist das „andere“ Stück des Albums, sparsam instrumentiert mit einer umso eindringlicheren Stimme. „Magic“ beginnt als harmloser Folksong, in dem ein Zauberer seine Zuschauer mit netten Tricks fasziniert. Doch so freundlich das Lied beginnt, ziehen doch langsam düstere Schwaden zwischen den präzise gesetzten Worten auf. Er sieht die Freiheit durch das Geäst der Bäume entschwinden. Sein Fazit lautet: „There’s bodies hangin‘ in the trees, this is what will be.“ Mit einer poetisch ungeheuer suggestiven Bildsprache schließt diese Allegorie unmittelbar an Bob Dylans Song-Monument „Blowin’ In The Wind“ an. Vielleicht ist „Magic“ der beste Song, den Springsteen je geschrieben hat. Das letzte Drittel der CD bleibt pessimistisch. „Last To Die“ ist ein unmissverständlicher Anti-Irakkrieg-Song, „Long Walk Home“ ist eine nachdenkliche Midtempo-Nummer über einen Einzelgänger, und „Devil’s Arcade“ ist eine traurig-böse Ballade über Soldaten im Krieg, die nicht wissen, wofür sie sterben sollen.
So kraftvoll der Magier mit „Magic“ daherkommt, haftet dem Album doch blutiger Wüstensand an. Springsteen schafft es dennoch, den Hörer weder zu belehren noch betroffen zu machen. Er macht das Beste und Effizienteste, was in seiner Situation möglich ist. Ohne seine Fans zu verprellen, serviert er ein für seine Verhältnisse ungemein kritisches Album in einem Gewand hochklassigen Entertainments. In seiner vollen Kraft und Herrlichkeit hat „Magic“ das Zeug zum Klassiker, mit dem der Boss einmal mehr die Stadien dieser Welt hinter sich vereinen wird.
Quelle: wom.de