Die Toten Hosen – Ballast der Republik / Die Geister, die wir riefen
30jähriges Jubiläum, Magical Mystery Tour, RIP/RAR-Headliner – der Terminkalender für 2012 ist also prall gefüllt. Man könnte sich auf dem Status Quo ausruhen und ein gängiges Best Of Album rausbringen. Dies tat man aber bereits 2011. Und für 2012 heißt die Devise: Zeigen, wo der Hammer hängt und bloß nicht zu viel Nostalgie aufkommen lassen. Deswegen und vor allen Dingen, weil eine Menge guter Songs geschrieben und eingespielt wurden, gibt es in diesem Jahr auch ein neues Studioalbum. Und damit nicht genug. Hinzu kommt eine zweite Scheibe, auf der sich die Hosen vor alten Weggefährten und Einflüssen verneigen. 3 ½ Jahre sind seit der letzten regulären Studioplatte „In aller Stille“ vergangen. Die Hosen und insbesondere Campino haderten lange mit der Qualität des Outputs. Deswegen holte sich Campino bei einigen Songs auch externe Hilfe beim Texten durch den befreundeten Rapper Materia. Letztendlich muss man aber sagen, dass sich die auf den ersten Blick ungewöhnliche Kooperation und das Warten gelohnt haben. Die Hosen haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie für große Melodien und eine gute Portion Pop durchaus Sympathien hegen. Diese Platte zeigt nur noch vereinzelte Punk-Spuren, vielmehr findet man Rock/Pop-Stücke, wenn auch häufig der härteren Sorte. Der Reihe nach:
Ballast der Republik 01 Drei Kreuze (dass wir hier sind) – Das Intro, bestehend aus Gitarren und Streichern, baut einen tollen Spannungsbogen auf und geht fließend über in… 02 Ballast der Republik – Das titelgebende Stück des Albums. Im Intro und in den Strophen dominiert eine schroff gespielte Akustikgitarre und der Refrain kracht dann richtig rein. Inhaltlich wird dargestellt, wie die deutsche Geschichte in unseren Köpfen hängt und uns doch irgendwie daran hindert bestimmte Dinge unbelastet anzugehen. Richtig gute Nummer! 03 Tage wie diese – Kennt mittlerweile vermutlich jeder. Eine Riesen-Hymne mit absoluter Berechtigung und die wegen der Umstände überhaupt nicht gewollt gewirkt, sondern sehr authentisch. 04 Traurig einen Sommer lang – Auf „In aller Stille“ suchte man augenzwinkernde Lieder vergeblich, hier ist mal wieder so eins. Schön, dass Campino es geschafft hat, wieder so eine Art Lied zu schreiben, das mir gefällt. Das Thema sind verstorbene Rockstars und neben einigen biographischen Aspekten, auch die Beschreibung, wie zuvor vergessene und kritisierte Stars nochmal einen Sommer lang Aufmerksamkeit bekommen. Eine Rock-Nummer, die gut nach vorne geht. Einer meiner Lieblinge auf dem Album und live sicherlich auch ein Bringer. 05 Altes Fieber – Ein Schlagzeugintro leitet mit zurückhaltenden Gitarren diesen Song ein und schafft eine melancholische Atmosphäre – bevor der Refrain dann eine richtige Hymne voller Kraft über das Thema Freundschaft wird. Muss sich in dieser Kategorie vor „Tage wie diese“ in keinem Fall verstecken. Keine Neuerfindung, aber verdammt gute Hosen-Hausmannskost. 06 Zwei Drittel Liebe – Wenn man böse sein will, erinnert die Nummer ein wenig an Nickelback. Mitgröhl-Rock mit treibendem Beat und anrüchigem Text, der teilweise richtig schlecht ist: „Die Luft brennt, der Feuermelder schlägt Alarm / Unser Bett ist gebaut auf `nem Vulkan“. Ist und wird mit ziemlicher Sicherheit keiner meiner Favoriten. 07 Europa – Nach „Ballast der Republik“ das zweite politische Stück der Platte und eine der stärksten Nummern. Musikalisch höchstens Midtempo, irgendwie sperrig und für Hosen Verhältnisse ungewöhnlich. Am Anfang wird eine Hafenkulisse beschrieben mit einer positiven Grundstimmung bis zum ersten Refrain. Ab der zweiten Strophe wechselt die Wortwahl und die Atmosphäre dramatisch – ebenso wie die Botschaft des Refrains. Lyrisch ganz großes Tennis von Campino. 08 Reiß dich los – Man könnte meinen, dass in diesem Lied die Anfangs erwartungsfrohen Menschen aus dem vorherigen Song beschrieben werden („Wir schwimmen durch jedes Meer“), die einen Aufbruch und Neustart wagen. Musikalisch ebenfalls mit einer interessanten Note indischer (?) Musik im mittleren Solopart und einem sehr groovigen Rhythmus. 09 Drei Worte – Ein mit der akustischen Gitarre gespieltes Intro leitet einen der härtesten Songs des Albums ein. Mit typischer Kuddel-Melodie, schneidenden Gitarren und krachendem Schlagzeug schreit sich Campino größtenteils durch die Situation, in der man ein erwartetes „Ich liebe dich“ einfach nicht über die Lippen bekommt. Das Stück gefällt mir aufgrund seiner Intensität sehr gut. 10 Schade, wie kann das passieren? – Ja, der Titel ist so ein wenig das Motto des Liedes. Spricht mich nicht an. Geht leider in Richtung „Walkampf“ und „10 kleine Jägermeister“. Ziemlich flacher Text und musikalisch auch eher einfältig. „Typisch Hosen“ werden diejenigen sagen, die nur Jägermeister, Bommerlunder und Bayern kennen. 11 Draußen vor der Tür – Wie für Campinos Mutter „Nur zu besuch“ ist, so ist „Draußen vor der Tür“ das Stück für seinen verstorbenen Vater. Auch wenn es für mich nicht das Gefühlsniveau wie „Nur zu besuch“ erreicht, so zeigt doch genau dieses Lied, warum die Hosen für mich so gut sind: Authentizität. Nicht nur beim Text, sondern die Nummer wirkt auch beinahe wie live eingespielt. 12 Das ist der Moment – Das nächste Lied über eine Vater-Sohn-Beziehung. Allerdings diesmal aus Sicht des Vaters Campino. In dieser Pop-Nummer geht es um die verschiedenen großartigen Momente, die Campino in seinem Leben erleben darf – eben mit seinem Sohn, aber auch mit den anderen Jungs. Sehr positiver, optimistischer Song, ohne zu platt zu wirken. An der Zeile „Linkin spielen im Park und wir am Ring“ werden sich wohl die Geister scheiden – mir gefällt es. 13 Ein guter Tag zum Fliegen – Ein weiterer Midtempo-Song mit abgesehen vom prägnanten Schlagzeug und dem wiederkehrenden Gitarrenspiel relativ zurückhaltender Instrumentalisierung. Für mich bisher irgendwie der „Grower“ des Albums. Am Anfang häufig drüber weggehört, aber mittlerweile gefällt mir die Unbeschwertheit und der leicht abgedrehte Text des Liedes sehr gut. 14 Oberhausen – Das Tempo und die Lautstärke ziehen ein wenig an. In dem Lied geht es über die unglückliche Liebe aus der Sicht einer Frau und das Problem, dass sie einfach nicht von dem Typen loskommt. Ganz nette Melodie, mehr aber (bisher) nicht. 15 Alles hat seinen Grund – Das ruhigste Stück der Platte mit viel Streicher-Einsatz. Für viele Hosenfans das Schwächste der Scheibe. Ich mag sowohl Campinos philosophisch-angehauchte Texte als auch die Instrumentalisierung. 16 Vogelfrei – Zum Abschluss nochmal ein richtiger Hammer. Einsam aufblitzende Gitarren bilden das Intro für den Song, der sich immer mehr steigert und schließlich in einem absolut melodischen und gleichzeitig druckvollen Mit-Sing-Refrain mündet. Inhaltlich geht es um eine Party nach dem Tod im Paradies („Hier oben tut die Luft so gut, ich atme alles ein / Gott macht den besten Kaffee und keiner spuckt mir rein“). Ebenfalls sehr schön ist, dass am Ende das Intro des Albums wieder eingespielt wird und dem Album somit ein echter Rahmen verpasst wird.
Das Album hat ein, zwei Schwachpunkte, trotzdem ist es eine richtig gute Scheibe geworden. Nach dreißig Jahren im Geschäft hat man nicht viele Bands bei denen man diese Lust, dieses Feuer und diese Mühe bei einer neuen Platte so raushören kann.
Als Bonbon haben die Hosen, wie oben bereits erwähnt, alte Lieblingslieder anderer Künstler neu aufgenommen und dem ganzen den Titel „Die Geister die wir riefen“ verpasst. Neben alten Kollegen aus der Punkszene (Abwärts, Male, Die Ärzte, …) findet man auch echte Überraschungen wie beispielsweise Coverversionen von Falcos „Rock me Amadeus“ oder Kraftwerks „Das Model“. Hinzu kommen vertonte Gedichte von Hermann Hesse und Erich Kästner. Ich verzichte auf ein einzelnes Review zu jedem der 15 Songs, sondern picke mir ein paar Highlights raus: Die Moorsoldaten – Das Lied entstand 1933 in einem KZ, verbreitete sich in weiteren KZs und wurde so zu einer Art inoffiziellen Hymne aller KZ-Häftlinge. Die Ernsthaftigkeit und Dramatik dieser düsteren Textes wurde passend in eine musikalische Form gebracht. Gänsehaut! Im Nebel – Ein vertontes Gedicht von Hermann Hesse. War in einer anderen Version schon mal eine B-Seite. Gefällt mir musikalisch jetzt noch mal um einiges besser. Ruhige, fast mystische Nummer, die die Nebellandschaft als Symbol der Einsamkeit sehr gut widergibt. Obwohl der Text schon einige Jahre auf dem Buckel hat, passt er doch meiner Meinung nach sehr zu den gesellschaftlichen Entwicklungen der heutigen Zeit. Heute hier morgen dort – Die Coverversion dieses Liedes von Hannes Wader ist ein super Ohrwurm und auch die Attitüde gefällt mir. Schrei nach Liebe – Die Hosen covern den besten Die Ärzte Song und auch den, der am besten zu Ihnen passt – passt! Manche Frauen – Eigentlich habe ich ja für die Kooperationen mit Funny van Dannen eher wenig übrig, aber über diesen Text kann ich wirklich schmunzeln und das Ding ist ein Ohrwurm! Stimmen aus dem Massengrab - Ein Gedicht von Erich Kästner, welches zwischen den zwei Weltkriegen entstand. Morbide Stimmung geparrt mit Kritik an der Kirche und passender Musik. Lasset uns singen – Angeblich entstand dieses altertümliche Lied über Alkohol und Frauen 1650 und wurde von dem Grafen Zirben und Destilie van der Vogelbeer geschrieben. Es halten sich aber Gerüchte, dass die Hosen die Nummer selbst geschrieben haben. Sollte dies so sein, Respekt, denn der Text ist zum Schießen!
Diese Bonus CD klingt beinahe wie ein eigenständiges Hosen-Album. Schön ist, dass sie den Schwung hat, der dem regulären an einigen Stellen ein wenig fehlt. Wer also überlegt, welche Version er sich zulegen soll, der sollte bei der Doppel-CD zugreifen!
Zum Abschluss noch ein Lob für das äußerst gelungene Cover und Artwork des ganzen Paketes. Setzt sich von der Masse ab und auch die Booklets überzeugen durch Inhalt und Aufmachung.
Fazit: Eine rundum gelungene Sache!
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